Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
mit der Frage, ob sich sein Brotherr zur Jause hinauf ins Schloss begebe oder den Tee eher hier serviert bekommen wolle. Gewöhnlich schickte er deswegen einen Diener, doch heute erschien er selber. Er hatte die Frage gestellt, doch noch keine Antwort erhalten, und so wartete er im Hintergrund. Mit gleichgültiger Miene beobachtete er den Hügel auf der anderen Seite. Die Nachmittagssonne beleuchtete hell die Anhöhe. Die Schlehdorn- und Buchentriebe hoben sich auf den leicht abschüssigen Hängen vom gelben Hintergrund des Lehms scharf ab. Kalksteinsplitter schimmerten dazwischen weiß. Jeder einzelne Grashalm war zu erkennen, und selbst jenseits des Zauns rechter Hand, wo die Büsche dichter wuchsen, vermochte der Blick ins Geäst tiefer einzudringen.
Dort tauchte jetzt ein Wanderer auf. Ein großgewachsener Mann. Er trug grüne Leinenkleider, Kniehose und eisenbeschlagene Bergschuhe. Eine gewaltige Brille saß auf seiner Nase, in der Hand hielt er ein Schmetterlings-Fangnetz, ein Rucksack belastete seine Schultern, und an der Seite schien ihm irgendeine Blechbüchse zu hängen. Er nahte auf einem verlassenen Pfad, auf einer alten Rinderfährte, die ihren Anfang im Waldesinneren nahm und die, bevor dieser Hang hier umzäunt wurde, quer um den vorspringenden Hügel geführt hatte. Er kam mit gleichmäßigen Schritten immer näher. Dann stieß er gegen den Drahtzaun. Er blieb stehen und beugte sich vor. Es lag offenkundig an seiner Kurzsichtigkeit, dass er den Zaun aus solcher Nähe prüfte.
Und nun überstieg er ihn mit seinen langen Beinen, um seinen Weg ruhig in Richtung der Zielscheiben fortzusetzen. Die englische alte Jungfer nahm ihn als Erste wahr. Vielleicht hatte ihn auch Maier erblickt, aber er sagte nichts.
»A man! A man!«, rief die Nurse. »Passen Sie auf!«
Großes Geschrei setzte hierauf ein. Uzdy, die Frau und sogar Maier und der im Graben kauernde kleine Junge, sie alle ermahnten den leichtsinnigen Wandersmann schreiend, nicht geradewegs in die Bahn der Kugeln hineinzumarschieren. Doch er blieb nicht stehen, sondern schritt weiter. Ihm fiel wohl gar nicht ein, dass der große Lärm ihm galt.
Uzdy verlor die Geduld. Rasch hintereinander jagte er drei Kugeln vor die Füße des Fremden; sie trafen einen Stein, der blank dort lag. Die Einschläge knatterten – pakk, pakk, pakk! –, kleine Splitter flogen rundherum.
Der Fremde begriff anscheinend erst jetzt, dass er den falschen Weg gewählt hatte. Er drehte sich in Richtung der Schüsse, und dann kam er langsam, mit den sicheren Schritten eines Bergsteigers den Steilhang herunter.
Pali Uzdy lachte triumphierend.
»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich an verbotenem Ort bewegt habe«, sagte der Ankömmling, nachdem er über den Graben gesprungen und beim Schießstand angelangt war. Er zog den Hut und stellte sich vor: »Wolf Hermann Kisch aus Szászrégen.« Er sagte nur so viel. Dass er Arzt sei, erwähnte er nicht. Er sprach fließend Ungarisch, mit einer kaum bemerkbaren fremden Intonation. Mit wenigen Worten erzählte er, dass er Schmetterlinge sammle und deshalb hier vorbeigekommen sei. Er streife durch diese Gegend. Uzdy lachte über dies alles, aber der Doktor kümmerte sich nicht darum. Er sah sich um und erblickte die kleine Engländerin. »Ihre Gattin vielleicht …? Küss die Hand.« Um Maier scherte er sich nicht, er schien ihn gar nicht zu sehen. Dabei hatte er mit ihm das ganze Programm in Körösfő vereinbart, wohin der alte Butler bei Morgendämmerung gewandert war. Die beiden verstanden einander mühelos, da doch Maier in seiner Jugend als Berufspfleger gearbeitet hatte.
So war Dr. Kisch nach Almáskő gekommen. Uzdy nötigte ihn zum Bleiben. Er betrachtete ihn gleichsam als seine Beute. Als jemanden, den er gewonnen hatte. Er war auf ihn beinahe stolz und ließ ihn nicht weiterziehen, obwohl Gräfin Clémence, die vom Beruf des Gastes nichts wusste, diesem ihre Gunst versagte.
Doch Pali Uzdy hörte schon seit geraumer Zeit nicht mehr auf seine Mutter; im Gegenteil, in seinen Augen entzündete sich manchmal ein feindliches Licht, wenn er sie anblickte. Begonnen hatte dies damals, als die alte Frau aus Meran zurückgekehrt war. Ungewöhnlich bei dem sonst immer gemessen höflichen Uzdy, doch seither kam es immer öfter vor, dass er ihr gereizt antwortete, und gelegentlich mischte er sich sogar in kleine Einzelheiten des Haushalts ein, obwohl die Witwe bisher auf diesem Gebiet unbeschränkt geherrscht hatte. Einzig um seine
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