Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Mutter auf diese Weise zu ärgern, verfolgte er auch die neu angestellte Gouvernante.
An Dr. Kisch dagegen fand er gleich Gefallen. Schon am nächsten Tag weihte er ihn in seinen grandiosen Plan ein, mit dem er das ganze heutige Zahlensystem umzukrempeln gedachte. Sie unterhielten sich während vieler Stunden, unternahmen an ganzen Nachmittagen gemeinsame Spaziergänge, die halbe Nacht verbrachten sie, im Arbeitsraum eingeschlossen, zusammen im Gespräch, und der sächsische Arzt durfte Uzdys Zimmer zu jeder Zeit und noch so überraschend betreten. Dr. Kisch war in der Tat ein wahrer Meister der Seelenkunde und nicht vergeblich ein Schüler Charcots gewesen.
Er verbrachte fünf Tage in Almáskő. Am sechsten Tag bei Morgendämmerung ging er fort, nachdem er sich am Abend verabschiedet und dem Hausherrn versprochen hatte, ihn Ende Sommer wieder zu besuchen. »Im Frühherbst kommen hier interessante Schmetterlingsarten vor«, sagte er, da er bis zuletzt die Rolle des Naturforschers spielte. Die ihm angebotene Kutsche lehnte er ab. Er zog zu Fuß bergwärts, wählte den Pfad, der auf dem Grat in den Weg nach Bánffyhunyad mündete. Es graute noch kaum, als er aufbrach.
Einige Stunden später machte sich Adrienne auf den Weg – auf einer anderen Fährte, aber in die gleiche Richtung. So waren sie übereingekommen. Während der Anwesenheit des Arztes hatten sie sich unter vier Augen nie unterhalten. Auch dieses Treffen war durch die Vermittlung des alten Butlers bestimmt worden. Adrienne hatte nach ihrer Rückkehr aus Szászrégen einzig Maier eingeweiht, da sie seine Diskretion gegenüber allen wohl kannte; nur mit ihm besprach sie die Vorkommnisse.
Die junge Frau pflegte früh aufzustehen und an den Vormittagen durch den Wald zu streifen. Es fiel folglich nicht auf, wenn sie auch heute früh diesen Weg nahm. Besorgt zog sie durch den Hochwald. Ihr Herz klopfte. Jetzt würde sich ihr Schicksal entscheiden. Jetzt würde sie erfahren, ob sie ihre Scheidung zur Sprache bringen durfte. Sie ahnte weder Gutes noch Böses. An der Miene des Arztes ließ sich nichts ablesen, obwohl sie in den vergangenen fünf Tagen einzig ihn beobachtet hatte. Als sie den Forst hinter sich ließ, erblickte sie jenseits des Kahlschlags Dr. Kisch schon von weitem. Er saß, wie abgemacht, auf dem Grenzstein des Waldbesitzes der Uzdys. Es wäre aber nicht gut, sollte man sie hier zusammen sehen. Das hätte sich herumsprechen können. Die Dörfler pflegten diesen Weg zum Markt zu nehmen. Sie riet deshalb, kaum hatte sie den Wartenden erreicht, den Pfad zu verlassen.
Nur eine Richtung bot sich an. Sie konnten einzig ins Abády-Gut ausweichen, zu der uralten Buche, wo sie von jungen Zweigen verdeckt wurden. Das war der Baumriese, unter dem ihre Liebe in jener mattgrauen Abenddämmerung im Mai erneut aufgeflammt war. Zuvor hatte sie hier oft, Tag für Tag, unbewusst auf die unwahrscheinliche Zusammenkunft gewartet, die dann plötzlich zur Wirklichkeit wurde. Und noch viel früher, zu Beginn ihrer Liebe, hatte sie sich mit Bálint hier zu ihrem ersten heimlichen Stelldichein getroffen. Die alte Buche galt für sie als eine Freundin. Der symbolträchtige Baum war ein stummer Zeuge der Leidenschaft, die sie seit Jahren erfüllte. So weit gingen sie. Vor dem Baum blieben sie stehen, Adrienne lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm. Dr. Kisch stand vor ihr, so trug er seine Ansichten vor.
Er bekannte nicht ganz Farbe, umschrieb ein wenig, was er zu sagen hatte, und wählte die Worte mit Bedacht. Er zählte bekannte Fakten auf. Uzdy stamme von belasteten Eltern ab, denn nicht sein Vater allein sei geistesgestört gewesen, er halte auch die alte Gräfin Clémence für nicht normal. Das bedeute noch nicht viel. Es gebe kaum einen Menschen, den wir für normal hielten, wenn wir in alle Falten seiner Seele Einblick hätten. Adrienne nickte bloß und machte keine Bemerkung, nur ihre großen, topasfarbenen Augen weiteten sich in kummervoller Erwartung. Der Arzt sprach weiter. Sein besänftigend summender Ton dämpfte den Inhalt seiner Mitteilungen. Ihr Sinn indessen war klar. Seiner Meinung nach befand sich Uzdy gegenwärtig in einem hochgradigen Zustand von gereizten Nerven. Das könne, werde sogar wahrscheinlich bald vorübergehen. Er habe ihm Mittel zur Linderung überlassen, die er bestimmt einnehmen werde.
»Ich habe sie ihm nicht als Arzt verschrieben«, fügte er lächelnd hinzu. »Er hält mich für einen Quacksalber. So musste ich ihm die Dinge
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