Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
kein Eichelhäher, kein Milan schrie, und abends hörte man auch keine Eule. Stille, Stille überall wie die Unendlichkeit oder der Tod.
Bálint rührte sich kaum aus seinem Zelt. Er, den sonst im Hochgebirge alles so sehr fesselte, verzichtete jetzt auf jede Tätigkeit. Ein Echo in ihm lösten nicht einmal die Angaben aus, die ihm Zutor bei der Ankunft vorgelegt hatte: Angaben über den wiederholten Machtmissbrauch des Kreisnotars Gaszton Simó, der mit den Allüren eines Paschas herrschte. Dabei fand sich nun unter dem Aufgezählten auch ein Fall, der ihm ermöglicht hätte, Simó zu verjagen, das Volk von ihm zu befreien. Es handelte sich um eine verwickelte Angelegenheit, in der gewisse Steuergelder versickert waren. Es hätte genügt, sich hinter die Geschädigten zu stellen und beim Komitat eine Untersuchung zu verlangen. Mit welcher Kampfeslust hätte er früher die Sache aufgegriffen! Wie hellwach hätte sein Helferwille bestimmt, auf welche Weise er vorgehen müsse. Jetzt aber nahm er den Bericht einfach zur Kenntnis, er las ihn durch und legte ihn weg, ohne einen Beschluss zu fassen.
Er saß den ganzen Tag im Zelteingang und blickte vor sich hin. Seine Gedanken schweiften herum; sie wanderten nach Dénestornya und dann immer wieder zurück zu Adrienne. Wie weit sich ihre Augen geöffnet hatten, als er ihr vom Bruch mit der Mutter berichtete. Wie erschreckt sie ihn angeblickt hatte. »Das hast du getan«, fragte sie, »etwas so Furchtbares?« Denn sie spürte sogleich, welche Verpflichtung für sie das Opfer bedeutete, das er ihretwegen gebracht hatte. Und er, Bálint, hob dies denn auch hervor, er wiederholte unbarmherzig alles; so leid es ihm tat, er musste es tun, dies war das einzige Mittel, die Frau dazu zu zwingen, dass endlich auch sie mit ihrem Mann brach.
Ihr Mund küsste, ihre Arme umfingen ihn, sie gab ihm zur Entschädigung ihren Leib, und doch wusste Adrienne wohl, dass all dies nicht mehr ausreichte, dass sie nur noch mit ihrem ganzen Leben würde bezahlen können. Tränendiamanten sammelten sich auf ihren langen Wimpern.
Mittag war schon längst vorbei. Die Wolken hatten sich ein wenig heller gefärbt. Auch der Regen ließ etwas nach. Hagebuchen standen auf der anderen Seite, Bálint gegenüber. Zwei Meisen tschilpten dort zischend, schaukelten auf den dünnen Ästen, einmal hier, ein andermal da, in der endlosen Bewegung ihres unruhigen Lebens. Auch ein Zeisig meldete sich irgendwo. Und unten übertönte nun das Murmeln des Bachs den Regen. Dunstschleier bildeten sich oben und schwebten hinaus gegen die Bergflanken. Langsam begann es aufzuhellen.
Der Mann im Zelt nahm dies alles nicht wahr. Seine Gedanken weilten in Bitterkeit immer noch bei der jüngsten Erinnerung. Er hatte bisher geglaubt, er werde die Entscheidung herbeiführen, indem er erzählte, was er getan habe. Geglaubt, dass Addy sogleich einen Beschluss fassen und es auf sich nehmen werde, ihre Scheidungsabsicht bekanntzugeben. Es kam nicht so, konnte wohl nicht so kommen. »Noch kann ich es nicht tun … Unmöglich! Entsetzlich, aber jetzt trotzdem unmöglich!«, beteuerte sie wiederholt. Ihre Stimme klang zwar verzweifelt, aber sie blieb bei dieser Antwort und berichtete, was der Arzt gesagt hatte. Von neuem ging sie auf alles ein, schilderte die Gefahr, die sie mit ihrem Vorstoß heraufbeschwören könnte, die furchtbare Verantwortung, die sie, nur sie allein tragen müsste. Eine Verantwortung für jeden, für alle! Und ohne zu wissen, welchen Schmerz sie damit dem Mann bereitete, fügte sie auch jetzt die Worte hinzu: »Auch für meine Tochter!«
So schieden sie zuletzt. Es blieb dabei, dass sie weiterhin warten müssten, so wie bisher. Sie schieden unter Schmerzen. Und doch war dies kein Abschied, sondern ein Versprechen. Wann es eingelöst würde, war freilich ungewiss, ebenso ungewiss wie alle Einzelheiten und die Umstände, unter denen die Absicht verwirklicht werden sollte.
»Ich werde es mir überlegen … werde schreiben … sobald es geht … sobald überhaupt möglich … Ich werde mich mit aller Kraft bemühen, du weißt es ja!« Adrienne gelobte so viel.
Tränen standen in ihren Augen, und aus ihrer Miene sprach Verzweiflung.
Die Nebelfetzen verzogen sich weiter nach oben. Sie sammelten sich um die Berggipfel, ihr Bart verfing sich in den Wipfeln der größeren Bäume.
Ein milder Windhauch regte sich vom Tal her. Er war dermaßen leicht, dass man ihn nicht spürte, einzig die oberen Blätter der Birken
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