Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
eigenen Liebesbriefe zugeschickt wurden, die jener Mann einer anderen, unbekannten Frau überlassen hatte. Das brach ihr vollends das Herz und verwirrte ihren Geist. Seither war ihr Sinn gestört, sie schien nicht bei sich zu sein. Man musste sie wie ein krankes Kleinkind mit großer Schonung behandeln. Danach die Reise nach Wien. Beratungen mit dem Professor für Neurologie. Besuche im Sanatorium bei der Mutter, die schon seit langem als Patientin dort gepflegt wurde. Hernach die Rückkehr ins Familiennest nach Mezővarjas, wo alles von ihr, Adrienne, erledigt werden musste, da der Vater bei all seiner Güte nur zu weinen und zu schreien verstand – die vielseitige Verantwortung half Adrienne über die schlimme Zeit der ersten Wochen hinweg.
Sie sei nur noch für andere da, dachte sie, das eigene Leben zähle nicht mehr, eigentlich gebe es das gar nicht mehr. Sie stelle nichts anderes mehr dar als die Verkörperung abstrakten Willens, der allein imstande sei, die Familie vor dem Niedergang und der Auflösung zu bewahren. Unter solchen Umständen widmete sie sich der Aufgabe und hielt sich oft lange in Varjas auf. In allem traf sie die Anordnungen. Der Gutsverwalter besprach alle wichtigeren Fragen in Zusammenhang mit dem Grundbesitz hinter dem Rücken des Vaters allein mit ihr. Sie sorgte dafür, dass die ziemlich hohen Kosten, welche die Krankenbehandlung der Mutter verursachte, immer pünktlich und vollständig beglichen wurden. Hinzu kam, dass Judith nicht mehr in ihrem alten Mädchenzimmer bleiben konnte, das sie bisher mit Margit, ihrer kleinen Schwester, geteilt hatte. Es empfahl sich, sie weiter weg, in den letzten Flügel des Herrenhauses umziehen zu lassen, wo man minder stark hörte, wie der Vater tagaus, tagein mit dem Gesinde zeterte. Folglich richtete sie hier zwei Zimmer ein, eines für Judith und eines für jene brave Frau, die schon seit der Kindheit der Schwestern in Varjas gedient hatte und die sie jetzt an Judiths Seite beorderte.
Als sie dann entdeckte, dass im umnachteten Sinn des Mädchens beim Anblick kleiner Tiere irgendein Funke des Interesses aufleuchtete, ließ sie für sie an der Hausecke einen kleinen Geflügelhof einrichten, in dem es Hühner gab sowie einige Kaninchen. Dies wurde zu einem Erfolg. Als er fertig wurde, hatte Judith zum ersten Mal wieder an etwas Freude, und sie verbrachte danach alle ihre Tage hier, sie pflegte und fütterte die Tiere und fühlte sich unter ihnen offenkundig wohl. All dies machte Adrienne unabhängiger von der Schwiegermutter und von ihrem Mann. Sie hatte ihren Arbeitsbereich und ihre Pflicht. Damit mussten sich sowohl die alte Frau Uzdy als auch Adriennes Mann abfinden.
Auch bot dies immer wieder eine günstige Gelegenheit, sich von Almáskő zu entfernen, wo sie nicht das Allergeringste zu tun hatte und wo sie sich immer nur als Gast vorgekommen war. Der Haushalt und die Erziehung ihrer kleinen Tochter lagen in der Hand der Schwiegermutter, die ihr nie ein Wort der Mitsprache gestattete. Pál Uzdy wiederum behielt sich bis zur kleinsten Einzelheit jede Entscheidung vor. Zwar hatte sie sich bisher in der Gärtnerei mit der Pflege der Obstbäume befasst, was aber von den anderen eher nur als eine Spielerei betrachtet wurde, als ein dummer Zeitvertreib, über den sie bloß abschätzig lächelten. Dies hier jetzt war dagegen eine verantwortungsvolle Arbeit. Es schien, als ob in Pali Uzdy, der sie bisher behandelt hatte, als wäre sie in seinem Haus eine gekaufte weiße Sklavin, der keine andere Aufgabe zukam, als schön, gehorsam und zur Stelle zu sein, wenn er auf sie Lust bekam – als ob in Uzdy jetzt eine Ahnung von Wertschätzung dämmerte; wie wenn er bereit wäre, ihr – nein, nicht gerade bedeutend, aber doch ein bisschen – mehr Menschenwürde zuzugestehen; wie wenn er sogar leicht stolz darauf wäre, was Adrienne für ihre Familie tat.
Bei all dem freilich handelte es sich nur um Äußerlichkeiten. Das eheliche Verhältnis zu ihrem Mann blieb wie zuvor. Sie empfand nur Ekel und Angst, wenn Uzdy ihr Schlafzimmer betrat. Und mit der im Herzen bewahrten Erinnerung an die glücklichen Nächte in Venedig überkam sie das Gefühl, vom Himmel für ewig in die Hölle gekommen zu sein, zu der sie sich selber verurteilt hatte. Mit dem Fortschreiten der Wochen und Monate dachte sie indessen immer öfter an das, worauf sie durch Bálints Verbannung aus ihrer Nähe verzichtet hatte. Und die Gründe, die sie zu dieser Entscheidung bewogen hatten,
Weitere Kostenlose Bücher