Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
der Sekundenschnelle eines aufleuchtenden Blitzes hingestreckt …
In der allmählich violett durchzogenen Höhe flogen schon einige Fledermäuse. Immer wieder stiegen sie auf, mit emsigem Flügelschlag beschrieben sie Zickzacklinien zwischen dem Wald und der Unendlichkeit des veilchenfarbenen Himmels.
Adrienne setzte sich im dürren Laub auf und fuhr mit den Händen nach hinten, um ihr wild aufgelöstes Haar zu ordnen. Bálint blickte beklommen zu ihr empor. Jetzt, da sich der erste Rausch gelegt hatte, überfielen ihn ihre gemeinsamen Erinnerungen. Wie hatte es Addy damals in Venedig gesagt? An jenem letzten Frühmorgen, als sie voneinander schieden: »… ich will versuchen zu leben, wenn wir uns nicht mehr treffen …«
Ja, so lautete der Vertrag, den er dort akzeptiert hatte, um die Frau vor dem Tod zu retten. Denn der Tod schlich ständig um sie herum. Er bedrohte sie nicht nur von außen, durch andere Menschen, durch Pál Uzdy, den erblich belasteten Sohn eines geisteskranken Vaters, der immer einen Revolver bei sich trug und an der eigenen Bedrohlichkeit noch Gefallen fand. Dies hatte man während der langen Zeit, da er um Adrienne warb, kaum beachtet. Doch der Tod schwebte über ihren Köpfen vor einem Jahr, als Adrienne mit ihren Schwestern nach Venedig reiste. Damals, als sie Bálint für jene vier Wochen herbeirief. Als er die Einladung annahm. Vier Wochen, vier glückliche Wochen, nicht mehr, nicht weniger, vier im Traum und in Trance verbrachte Wochen im Paradies, für die es galt, mit dem Leben zu bezahlen.
Kein so gewaltiger Preis für jene vier Wochen!
Sie waren dort am ersten Abend zurückgewichen, doch dann riss sie ihre Liebe mit. Und zuletzt war es nur die Angst umeinander, die sie rettete und am Leben erhielt. Der Tod aber hatte schon viel früher auf sie gelauert, er fand Ausdruck in jenem flehenden Absagebrief, den Adrienne an ihn gerichtet hatte und in dem es klar hieß: »Sollte es geschehen, brächte ich mich um … Ich bin die Frau jenes Mannes, sein Eigentum … Wie wäre es denn, dass du und auch er? … Nein, nein, lieber sterben. Etwas anderes kann gar nicht sein …«
Alles, auch das Scheiden in Venedig, war nur noch Erinnerung, doch die Worte dieses Briefes wurden nun zu drohender Wirklichkeit. Was soll, wie soll es werden? Voneinander wieder zu lassen, nein, unvorstellbar! Dazu, wie er fühlte, wäre er nicht imstande, doch sein Herz verkrampfte sich beim Gedanken, dass Adrienne nun von ihrem Versprechen entbunden war und das Doppelleben mit ihm und ihrem Mann nicht annehmen würde. Liegend nahm er das Gesicht der Frau nicht deutlich wahr. Er setzte sich auf und berührte Adriennes Knie.
»Addy?« Dieses eine Wort enthielt die gewichtige Frage.
Die Frau wandte ihm ihren Blick zu. Ihre Augen lächelten, ein wenig auch der Mund. Und sie überließ ihm ihre Hand, ihre geschmeidigen Finger. »Nun ist mir schon alles gleichgültig«, sagte sie langsam.
Adrienne dachte an das Gleiche, an den Abschied in Venedig, an die Worte, die sie dort ausgesprochen hatte. Nachdem Bálint sich damals entfernt hatte, stand sie lange am Fenster, sie blickte hinaus auf die endlose Lagune, und ein Gefühl sagte ihr, sie sei bereits gestorben. Das Leben kam ihr vor wie abgeschlossen, und das Versprechen, sie werde versuchen weiterzuleben, schien ihr nicht mehr als ein eitles Wort, mit dem sie ihren Geliebten für eine kurze Weile, vielleicht für einige Wochen oder Monate hinhielt, damit wegen ihres Freitods kein Verdacht auf den Mann falle, in dessen Armen sie zum ersten Mal glücklich gewesen war. Diese Empfindung änderte sich auch in der hernach folgenden Zeit nicht, als ihr Gatte kam.
Wie eine Schlafwandelnde empfing sie ihn. Die Einzelheiten in Zusammenhang mit der Heimreise gaben ihr aber Beschäftigung und noch mehr die Aufgabe, für Judith, die größere ihrer beiden Schwestern, zu sorgen. Arme Judith, sagte sie sich damals, und dieses Mitgefühl machte die ersten Tage leichter. Arme Judith, wie tragisch sich doch auch ihr Schicksal gestaltete. Die Familie hatte den ganzen Aufenthalt in Venedig deshalb beschlossen, um das Mädchen aus der Umgebung herauszureißen, die für sie von Liebeskummer gesättigt war, sie sollte wieder zu sich kommen, die schreckliche Enttäuschung vergessen, die sie zu Hause erlebt hatte, als jener niederträchtige Mann aus dem Land geflüchtet war. Innerlich war in dem Mädchen schon damals etwas zerbrochen. Der letzte Schlag aber traf sie am Lido, als ihr die
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