Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
kaum unterschieden.
Bálint nahm am Gespräch nicht teil. Die Verhältnisse in Kroatien lagen ihm fern. Was er zu hören bekam, hielt er allerdings für äußerst lehrreich. Doch seine Nachbarin zur Rechten, die kleine Magda, langweilte sich offensichtlich bei diesem Thema. Mit einer Bewegung, die an einen Vogel erinnerte, wenn er ruckartig den Kopf dreht, wandte sie sich an Abády.
»Wie viele hast du an der Ecke geschossen?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht genau«, antwortete Bálint, »vielleicht hundertfünfzig oder hundertsechzig Stück.«
»So? Gar viel ist das nicht. Letztes Jahr wurde keine Treibjagd abgehalten, Papa und die Jungen jagten das Wild nur einzeln, denn wir waren meines Onkels wegen in tiefer Trauer, aber vorletztes Jahr wurden an jener Ecke 237 Stück erlegt.«
»Wer stand dort? Bestimmt ein besserer Schütze, als ich es bin.«
»Ich erinnere mich nicht mehr …«, antwortete das Mädchen verwirrt.
»Wie bitte? Du weißt genau, dass die Beute 237 Stück betrug, aber du weißt nicht, wer sie geschossen hat?«, lachte Bálint. »Nun, schnell heraus mit der Sprache: Wer war es?«
Die Stimme des Mädchens wurde ganz leise. Sie sagte beinahe ängstlich: »Der arme Laci, er …« Und unwillkürlich legte sie sich den Finger auf die Lippen, während sie zu ihrem Vater hinüberblickte. »Papa hat verboten, über ihn zu sprechen … man darf nicht einmal seinen Namen erwähnen … dabei tut er uns so leid …«
Kaffee und Liköre wurden von stummen Dienern im großen Salon serviert. Die Hausfrau blieb nur einige Minuten im Raum. Zu kalt war es hier für sie trotz dem Feuer, das im Cheminée loderte, und trotz den zwei mit gedrehten Kacheln geschmückten Barocköfen in den Ecken, die man jetzt bis zum Glühen geheizt hatte. So zog sie sich mit Frau Berédy und Klára Kollonich in ihr kleines und warmes Eckzimmer zurück. Um das Cheminée in der Mitte verblieben somit einzig Männer sowie Frau Illésváry, während das Jungvolk, Magda und Lili, die zwei Söhne der Gastgeberfamilie sowie Luika, am anderen Ende im Salon in der Runde zusammensaßen und »Hopiti« spielten, ein mit Jetons ausgetragenes, damals modisches Gesellschaftsspiel.
In der Mitte kam wieder ein politisches Thema aufs Tapet. Im Sommer dieses Jahres, im August, hatte es sich begeben, dass Eduard, der König von England, in Bad Ischl Franz Joseph besuchte. Die offiziellen Mitteilungen sprachen lediglich von einer Höflichkeitsvisite. Gerüchte dagegen wollten etwas anderes wissen. Sie behaupteten, es habe sich sehr wohl um einen politischen Schritt gehandelt, und der Umstand, dass König Eduard, der von Ischl nach Marienbad gereist war, während seines Aufenthalts dort von wichtigen Staatsmännern aufgesucht wurde, bekräftigte diese Sicht der Dinge. Als Erstes sprach bei ihm Clemenceau vor und dann Iswolskij. Dass auch sie sich zu einer Abmagerungskur nach Marienbad begeben hätten, schien eher unwahrscheinlich.
Das französisch-russische Bündnis bestand schon seit langem. Bekanntlich war aber vor drei Jahren der Delcassé-Vertrag, die »Entente cordiale« zwischen Frankreich und England, zustande gekommen. Es war die friedliche Regelung jener Kolonialfragen in Afrika, die diese beiden Mächte berührten, und das überaus gespannte Verhältnis, das sich während des Burenkriegs zwischen dem Britischen Empire und den Franzosen immer mehr zugespitzt hatte, wurde von heute auf morgen durch eine freundschaftlich gestimmte Beziehung abgelöst. Auch in den marokkanischen Angelegenheiten kam dies zum Ausdruck. Die Franzosen erhielten hier freie Hand, was umso leichter gelang, als die französische Expansion in Afrika wunderlicherweise von Deutschland unterstützt wurde; der Gedanke, dass die französischen Kräfte dort während vieler Jahre gebunden sein und sich mit Ideen der Revanche weniger beschäftigen würden, mochte dabei den Ausschlag gegeben haben.
In diesem Sommer kam es aber zu einer neuen und unerwarteten Wendung. König Eduard entschärfte nach der Regelung der afrikanischen Fragen auch den asiatischen, beinahe ein Jahrhundert alten englisch-russischen Gegensatz. Nachdem Großbritannien während des russisch-japanischen Kriegs seine Hand auf Tibet und Afghanistan gelegt hatte, entfernte er jetzt den Zündstoff, der als Folge dieses Gebietsgewinns entstanden war. Die Einigung musste vollkommen sein, sonst wäre eine so demonstrative Geste wie der Besuch des englischen Königs und seiner Flotte in Reval, der jetzt für den
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