Versprechen eines Sommers
versuchte, den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu entziffern. War das Abscheu? Überlegenheit? Was dachte jemand wie sie, wenn sie hörte, wie jemand wie er lebte?
„Das klingt erstaunlich“, sagte sie.
„Tut es das?“
„Verdammt noch mal, ja. Denk doch mal drüber nach. Du kannst jederzeit gehen, wann immer du willst. Einfach … weggehen. Glaub mir, wenn meine Eltern das gekonnt hätten, als sie sich getrennt haben, wäre ihre Scheidung nicht so hässlich und schmerzhaft verlaufen.“
„Die Scheidung war hässlich und schmerzhaft?“
„Ha. Sie war die Lexikonabbildung zu ‚hässlich und schmerzhaft‘. Und das Ding ist, alle ihre Kämpfe – die Jahre des Kalten Krieges, wie ich sie nenne – drehten sich um Sachen. Zeug. Wie ein Bild oder eine Lampe oder eine Antiquität, weißt du?“
„Sie haben sich nicht um das Sorgerecht für dich gestritten?“
„Pf, schön wär’s. Auf gar keinen Fall hätte meine Mutter auch nur darüber nachgedacht, mich aufzugeben. Das war das Einzige, worüber sie nicht gestritten haben. Es war einfach Gesetz, dass meine Mutter mich behalten würde, so wie sie ihre Eierstöcke behalten hat.“
Noch mehr Ironie, dachte er. Lolly konnte den Erwartungen ihrer Eltern nicht entfliehen, und er konnte sich nicht vorstellen, Eltern zu haben, die irgendwas von ihm erwarteten.
„Wie steht’s mit dir?“, fragte er. „Was hast du so getrieben?“
„Die letzten beiden Sommer bin ich ein wenig gereist.“
„Wohin?“
„Übersee.“
„Du könntest ruhig noch ein wenig genauer sein. Ich denke, ich erinnere mich noch an ein paar Sachen aus dem Geografieunterricht.“
Sie schenkte ihm ein humorloses Lächeln. „Lass mich überlegen. Den vorletzten Sommer habe ich mit meiner Mutter und ihrer Mutter – meine Großmutter Gwen – in London, Paris und Prag verbracht. Um nicht ausgestochen zu werden, hat mein Vater mich dann im letzten Sommer nach Alexandria, Athen und Istanbul mitgenommen.“
„Das klingt toll“, sagt er. „Mann, Istanbul. Und Ägypten. Hast du die Pyramiden gesehen?“
„Ja. Und sie waren genau so, wie man sie sich vorstellt. Nein, noch besser. Diese Sommer, diese Orte, die ich gesehen habe … das war wie ein Traum.“
„Du bist ein glückliches Mädchen, Lolly. Lucky Lolly. Das klingt wie ein Rennpferd oben in Saratoga.“
„Ja, das bin ich. Glücklich.“
„Wieso findest du, dass du eine schlechte Zeit hattest?“
„Nein. Glaub mir, man kann nicht nach Paris fahren und eine schlechte Zeit haben. Aber … es war sehr einsam und anstrengend. Ich habe mich die ganze Zeit so gefühlt, wie ich mich seit der Scheidung fühle. Als ob ich mich auf eine bestimmte Art verhalten oder benehmen müsste. Gott, ich klinge wie ein nörgeliges Kleinkind, mich so zu beschweren.“
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er. „Ich werde nicht allzu viel Mitleid mit dir haben.“
„Gut, denn ich habe auch keines mit dir.“
„Ich weiß. Das hattest du noch nie.“ Noch etwas, was er an ihr mochte.
„Wie sind deine weiteren Pläne?“, fragte Lolly.
„Ich wünschte, ich bekäme jedes Mal einen Nickel, wenn mich jemand das fragt.“ Was er sich wirklich wünschte, war, eine Antwort zu haben, die ihm gefiel. Wie zu reisen, aufs College zu gehen oder seinen Traumjob endlich anzufangen. Aber die Realität war weit weniger ansprechend. Er würde sich einen Job suchen müssen, um sich gerade eben so durchbringen und halbtags auf ein staatliches College gehen zu können. „Ich habe mich noch nicht entschieden. Und du? Ich wette, du hast schon Pläne, seitdem du in der Grundschule warst.“
„Warum sagst du das?“
„Du bist eine Planerin. Zumindest kamst du mir immer so vor.“
„Tja, nun, da ich die Highschool überlebt habe, werde ich die Welt mit einem ungeahnten Schritt schockieren“, sagte sie mit übertriebener Dramatik in der Stimme.
„Und das wäre?“
„Halt die Luft an. Ich werde aufs College gehen.“
„Du hast recht, ich bin schockiert.“ Natürlich war das College der nächste logische Schritt für Leute wie die Bellamys und die meisten hier im Camp. Reiche Kinder lernten, wie man ein reicher Erwachsener wurde, damit ihre Spezies nicht ausstarb.
„Ich denke, mir würde es gefallen, Lehrerin zu werden“, sagte sie. „Kunstlehrerin an der Highschool.“ Ihr schüchternes Lächeln blitzte in den Schatten des Raumes auf. „Du bist der Erste, dem ich das erzählt habe.“
„Ist es ein Geheimnis?“
„Nein, aber auch nichts, was meine
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