Versprechen eines Sommers
seinen baumelnden Bruder gerichtet.
Doch Julian lachte nur.
Eine halbe Stunde später hatten sie Julian wieder heraufgeholt und waren mit ihm und seinem Komplizen den Berg hinuntergegangen. „Du wahnsinniger kleiner Irrer.“ Wütend löste Connor das ausgefeilte Gurtsystem, mit dem Julian sich an dem Bungeeseil gesichert hatte.
„Ich denke nicht, dass du mich hier so nennen darfst“, erwiderte Julian. „Kioga-Regel 11: ‚Unter gar keinen Umständen werden Kraftausdrücke oder vulgäre Sprache weder von Campern noch vom Personal toleriert.‘“
„Und? Welche Regel verbietet es Idioten, sich von Brücken zu stürzen?“, wollte Connor wissen.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte Lolly.
Julian schaute sie an, und in dem Mondlicht sah er so unschuldig und engelhaft wie ein Chorknabe aus. Er schenkte ihr ein süßes, verletzliches Lächeln, und Connor konnte sich vorstellen, wie Lollys Herz zu einer kleinen Lache auf dem Boden zerschmolz.
„Ma’am“, sagte Julian mit vor Ernst zitternder Stimme. „Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, zu fliegen.“
Connor erwartete, dass Lolly sich von dem ansteckenden Charme seines kleinen Bruders um den Finger wickeln lassen würde. Doch stattdessen sagte sie: „Das war nicht fliegen. Das war ein freier Fall.“
Eine halbe Stunde später hatten sie die Jungs endlich wieder sicher in ihre Betten gebracht und sie gewarnt, dass sie mit disziplinarischen Maßnahmen, vielleicht sogar dem Ausschluss aus dem Camp rechnen mussten. Na toll, dachte Connor. Er wusste, wenn sein Bruder ginge, würde er auch gehen müssen. Der Sommer wäre vorbei, ehe er überhaupt angefangen hatte. Als er und Lolly die Schlafbaracke verließen, sagte er: „Das tut mir leid. Du hättest doch lieber auf der Party bleiben sollen.“
„Machst du Witze? Es passiert nicht jede Nacht, dass ich zusehen kann, wie jemand von der Meerskill-Brücke springt. Ich hätte es um nichts auf der Welt verpassen wollen.“
„Was zum Teufel soll ich denn nur tun?“
„Sprich mit ihm über eine Karriere als Stuntman.“
Die Betreuer waren angewiesen, jeden Regelverstoß der Camper dem Dekan zu melden. Connor versuchte, Lollys Gesicht zu erkennen, aber es war zu dunkel, um zu sagen, was sie dachte.
„Ich habe nichts gesehen“, sagte sie. „Du musst zugeben, er war sehr kreativ und einfallsreich.“
Das stimmte. Julian und George hatten sich mit Kletter-Geschirren, Tauen, Schlaufen und Bungeeseilen aus dem Camp eingedeckt. Anhand einer Zeichnung in einem Buch hatten sie daraus eine funktionierende Apparatur gebaut. Connors Bruder war eine seltsame Mischung aus Wunderkind, Stuntman und Idiot. „Seinem Vater nach hat er schon angefangen, von Dingen herunterzuspringen, als er noch ein Kleinkind war“, erzählte Connor. „Er ist schon seit jeher von Höhe besessen.“
„Dann lass ihn uns morgen in die Sprunggruppe stecken. Wenn er schon von Sachen herunterspringen muss, dann wenigstens unter Beobachtung. Es gibt außerdem noch die Seilrutsche und einen Kurs in Bergsteigen.“
Süße Erleichterung wirbelte durch seinen Körper. Connor war versucht, Lolly in diesem Moment zu küssen. Das Letzte, was er wollte, war, seinen Bruder noch einmal zu verlieren. „Das wäre einfach … großartig“, sagte er.
Sie zuckte mit den Schultern. „Keine große Sache. Ich glaube daran, dass man seinen Impulsen folgen soll, auch wenn sie einen auf seltsame Wege führen.“
„Ich sorge dafür, dass er nicht noch einmal Mist baut.“
„Okay.“
Er zeigte in Richtung Speisesaal. „Hey, hast du Lust auf eine Küchenrazzia?“
„Immer.“
Die Küche wurde jede Nacht verschlossen, um die Waschbären und Braunbären fernzuhalten. Aber der Schlüssel lag oben auf dem Türrahmen, und innerhalb von Sekunden waren sie drinnen. Die Campküche mit ihren Gerüchen nach Kräutern und frischem Hefebrot, ihren Dosenstapeln und dem vollgepackten begehbaren Kühlschrank erschien wie ein Ort des endlosen Überflusses.
Connor schnappte sich einen Laib Weißbrot aus der Sky River Bakery, das es schon gegeben hatte, als er hier noch Camper war. Das war eines der Dinge, die er im Laufe der Jahre am Camp zu schätzen gelernt hatte. Nichts änderte sich. Ein ums andere Jahr blieb alles gleich. Man konnte sich immer auf das Brot der örtlichen Bäckerei, Milch in wiederverwertbaren Glasflaschen und frisches Obst und Gemüse von den lokalen Bauern der Ulster County verlassen.
Lolly öffnete ein riesiges Glas
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