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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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    Sie war gerade im Begriff, noch einmal nach Mr.   Harris zu schicken, oder, falls er nicht kommen konnte, einen anderen Rat zu suchen, als der erstere – doch erst nach fünf Uhr – endlich erschien. Seine Meinung entschädigte jedoch ein wenig für sein spätes Kommen, denn obgleich er eine sehr unerwartete und unerfreuliche Veränderung bei seiner Patientin zugab, wollte er die Gefahr doch nicht als so groß ansehen und sprach mit einer Zuversicht von der Erleichterung, die ihr eine neue Art der Behandlung bringen mußte, die sich, wenn auch in geringerem Maße, auf Elinor übertrug. Er versprach, in drei oder vier Stunden wiederzukommen, und verließ die Patientin und ihre besorgte Pflegerin etwas ruhiger, als er sie vorgefunden hatte.
    Unendlich besorgt und mit vielen Vorwürfen, daß man sie nicht zu Hilfe geholt hatte, hörte Mrs.   Jennings am Morgen, was vorgefallen war. Ihre früheren Befürchtungen, nun mit mehr Grund wiederaufgelebt, ließen ihr keinen Zweifel über den Ausgang; und obgleich sie sich bemühte, Elinor Trost zuzusprechen, ließ ihre Überzeugung von der Gefahr, in der sich ihre Schwester befand, nicht zu, ihr den Trost der Hoffnung |339| zu geben. Sie war wirklich aus tiefstem Herzen bekümmert. Der rasche Verfall, der frühe Tod eines so jungen, so lieblichen Mädchens wie Marianne hätte auch schon eine weniger beteiligte Person mit Erbarmen erfüllt, auf Mrs.   Jennings Mitleid hatte sie jedoch höhere Ansprüche. Sie war drei Monate lang ihr Gast gewesen, stand noch immer unter ihrer Obhut, und sie wußte, daß ihr schweres Unrecht angetan worden und sie seit langem unglücklich war. Auch den Schmerz ihrer Schwester, die sie besonders liebte, mußte sie mit ansehen; und was die Mutter betraf, so empfand Mrs.   Jennings – wenn sie bedachte, daß Marianne ihr vermutlich das bedeutete, was ihre Charlotte für sie selbst war – aufrichtigste Teilnahme für sie.
    Zu seinem zweiten Besuch kam Mr.   Harris pünktlich, aber er wurde in seinen Hoffnungen auf den Erfolg des ersten getäuscht. Seine Arzneien hatten versagt, das Fieber hatte nicht nachgelassen; und Marianne, nur ruhiger jetzt, aber kaum bei Bewußtsein, verharrte in tiefer Benommenheit. Elinor, die alle, und mehr als alle seine Befürchtungen augenblicklich erfaßte, schlug vor, weiteren Rat einzuholen. Aber er hielt es nicht für nötig, er hatte noch etwas anderes, das er versuchen konnte, ein neues Mittel, von dessen Erfolg er fast ebenso überzeugt war wie von dem vorigen; und er beendete seinen Besuch mit ermutigenden Versicherungen, die zwar Miss Dashwoods Ohr erreichten, aber nicht in ihr Herz dringen konnten. Sie war jetzt ruhig, außer wenn sie an ihre Mutter dachte, aber sie war fast ohne Hoffnung; und in diesem Zustand blieb sie bis zum Mittag am Bett ihrer Schwester, fast ohne sich wegzurühren; und ihre Gedanken wanderten von einem Bild des Schmerzes, von einem leidenden Freund zum anderen, und sie war bis zum äußersten niedergedrückt durch die Reden Mrs.   Jennings, die keine Bedenken hatte, die Schwere und Gefahr dieser Attacke den vielen Wochen der vorangegangenen Unpäßlichkeit, die Mariannes Enttäuschung hervorgerufen hatte, zuzuschreiben; Elinor fühlte, wie berechtigt diese Meinung war, und sie gab ihren kummervollen Gedanken neue Nahrung.
    |340| Doch etwa zur Mittagszeit begann sie – wenn auch mit Vorsicht und der Furcht vor Enttäuschung, die sie eine Zeitlang selbst gegenüber ihrer Freundin darüber schweigen ließ – sich einzubilden, zu hoffen, sie könne eine leichte Besserung im Puls ihrer Schwester erkennen; sie wartete, beobachtete, fühlte ihn wieder und wieder – und schließlich, mit einer Erregung, die sie schwerer unter äußerer Ruhe verbergen konnte als all ihren vorangegangenen Kummer, wagte sie es, ihre Hoffnungen mitzuteilen. Obgleich sich Mrs.   Jennings bei näherer Prüfung genötigt sah, ein zeitweiliges Wiederaufleben zu bestätigen, versuchte sie, ihre Freundin vor dem Gedanken zu bewahren, daß es von Dauer sein könnte; und Elinor, die jede Aufforderung zum Mißtrauen sorgfältig prüfte, sagte sich gleichfalls, daß sie nicht hoffen dürfe. Aber es war zu spät. Die Hoffnung war nun einmal da; und in ihrer ganzen bangen Erregung beugte sie sich über ihre Schwester, um auf etwas zu warten – sie wußte kaum, worauf. Eine halbe Stunde verging, und die günstigen Symptome beglückten sie noch immer. Es zeigten sich sogar noch weitere, die eine Besserung zu

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