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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihnen fand.
    »Endlich sind wir allein. Meine liebe Elinor, du kennst noch nicht mein ganzes Glück. Colonel Brandon liebt Marianne, er hat es mir selbst gesagt.«
    Ihre Tochter, die abwechselnd Freude oder Qual empfand, überrascht war, aber auch wieder nicht, hörte ihr mit stiller Aufmerksamkeit zu.
    »Du bist so gar nicht wie ich, liebe Elinor, sonst müßte ich mich jetzt wundern über deine Gelassenheit. Könnte ich mir für meine Familie irgend etwas Gutes wünschen, dann würde ich mich als das Erstrebenswerteste dafür entscheiden, daß Colonel Brandon eine von euch heiratet. Und ich glaube, Marianne wird von euch beiden am glücklichsten mit ihm sein.«
    Elinor war halb geneigt zu fragen, aus welchem Grunde sie das meinte, da sie sicher war, daß es bei einer unvoreingenommenen Erwägung des Alters, Charakters oder der Geisteshaltung keinen Grund dafür geben könnte; aber ihre Mutter ließ sich ja bei jedem fesselnden Thema stets von ihrer Phantasie hinreißen, und deshalb ging sie, statt zu fragen, mit einem Lächeln darüber hinweg.
    |365| »Er öffnete mir gestern auf der Reise sein ganzes Herz. Es kam ganz unvermutet, ganz unbeabsichtigt heraus. Ich konnte, wie du dir gewiß denken kannst, über nichts anderes sprechen als über mein Kind; auch er konnte seinen Kummer nicht verbergen, ich sah, daß er ebenso litt wie ich; und da er vielleicht meinte, daß bloße Freundschaft, wie die Welt heute ist, eine so leidenschaftliche Anteilnahme nicht rechtfertigen würde – oder, wie ich vielmehr annehme, er überlegte gar nicht und überließ sich nur seinen übermächtigen Gefühlen   –, vertraute er mir seine inbrünstige, zärtliche, unerschütterliche Liebe zu ihr an. Er liebt sie, Elinor, schon seit dem ersten Augenblick, da er sie sah.«
    Doch hier erkannte Elinor nicht die Sprache, nicht die Bekenntnisse Colonel Brandons, sondern die üblichen Ausschmückungen der lebhaften Phantasie ihrer Mutter, die alles nach ihrem Belieben für sie zu etwas Wunderbarem machte.
    »Seine Liebe zu ihr – die unendlich viel tiefer ist, als was Willoughby jemals empfand oder vortäuschte, und soviel inniger, soviel aufrichtiger oder standhafter, wie immer wir es nennen wollen – hat während all der Zeit, da er um die Voreingenommenheit der lieben Marianne für diesen unwürdigen jungen Mann wußte, fortbestanden! Und ohne Eigennutz – ohne eine Hoffnung zu hegen – hätte er sie mit einem anderen glücklich sehen können   ... Eine so edle Gesinnung! Eine solche Offenheit, solche Aufrichtigkeit! In
ihm
kann sich niemand täuschen.«
    »Colonel Brandons Ruf«, sagte Elinor, »als ein vortrefflicher Mensch ist fest begründet.«
    »Das weiß ich«, erwiderte ihre Mutter ernst, »sonst wäre ich nach einer solchen Warnung die letzte, eine Liebe wie diese zu ermutigen oder gar erfreut darüber zu sein. Aber daß er gekommen ist, um mich zu holen, mit einer so tatkräftigen, hilfsbereiten Freundschaft, ist genug, ihn als einen höchst achtbaren Menschen zu erweisen.«
    »Sein Ruf«, erwiderte Elinor, »beruht nicht nur auf
einer
hilfreichen Handlung, zu der ihn seine Liebe zu Marianne auch dann veranlaßt hätte, wenn seine Menschlichkeit nicht |366| gefragt gewesen wäre. Mit Mrs.   Jennings und den Middletons ist er lange eng befreundet, und sie lieben und achten ihn; und selbst ich kenne ihn, obgleich unsere Bekanntschaft noch nicht lange besteht, außerordentlich gut; und ich schätze ihn so sehr, daß ich, wenn Marianne mit ihm glücklich werden kann, ebenso bereit sein werde wie du, unsere Verbindung mit ihm als den allergrößten Segen für uns zu betrachten. Welche Antwort hast du ihm gegeben? Hast du ihn hoffen lassen?«
    »Ach, meine Liebe, zu der Zeit konnte ich weder zu ihm noch zu mir selbst von Hoffnung sprechen. Marianne konnte doch in dem Augenblick vielleicht sterben. Aber er fragte ja auch nicht nach Hoffnung oder Ermutigung. Es war bei ihm ein ganz unwillkürlicher Vertrauensbeweis, ein unbezähmbarer Herzenserguß zu seiner Erleichterung gegenüber einer Freundin – keine Bitte an eine Mutter. Doch etwas später, denn zuerst war ich ganz überwältigt, sagte ich dann doch, daß es, wenn sie lebt, worauf ich vertraute, mein größtes Glück sein würde, ihre Heirat zu fördern; und seit unserer Ankunft, seit unserer glücklichen Gewißheit habe ich es ihm ausführlicher wiederholt und habe ihn, soweit ich nur konnte, ermutigt. Zeit, ein klein wenig Zeit, habe ich zu ihm gesagt, wird alles

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