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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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daß ihre Vernunft erwacht war und sie sich bemühte, dies auch zu beweisen; denn sobald sie ihr gemeinsames Wohnzimmer betraten, ließ sie ihre Augen mit einer entschiedenen Festigkeit umherwandern, als sei sie entschlossen, sich sogleich an den Anblick jedes Gegenstandes zu gewöhnen |372| , der mit der Erinnerung an Willoughby verbunden sein konnte. Sie sagte wenig, doch mit jedem Satz bemühte sie sich um Heiterkeit, und obgleich ihr zuweilen ein Seufzer entschlüpfte, folgte ihm stets ein ausgleichendes Lächeln. Nach dem Dinner wollte sie versuchen, auf dem Klavier zu spielen; sie begab sich zu dem Instrument, doch die Noten, auf die ihr Blick zuerst fiel, waren aus einer Oper, die Willoughby ihr beschafft hatte, und enthielten einige ihrer Lieblingsduetts; und auf der Außenseite trugen sie in seiner Handschrift ihren Namen. Das war nicht das Richtige. Sie schüttelte den Kopf, legte die Noten beiseite, und nachdem sie eine Minute lang ihre Hand über die Tasten hatte gleiten lassen, klagte sie über Schwäche in den Fingern und schloß das Instrument wieder, erklärte jedoch entschieden, daß sie in Zukunft viel üben müsse.
    Der nächste Morgen zeigte, daß diese glückverheißenden Symptome andauerten. Durch die Nachtruhe an Körper und Seele gestärkt, waren ihr Blick und ihre Worte nun sogar von noch echterer Lebhaftigkeit, während sie mit Freuden Margarets Rückkehr erwartete und über den lieben Familienkreis, der dann wiederhergestellt sein würde, über ihre gemeinsamen Beschäftigungen und über ihr fröhliches Beisammensein als das einzige Glück sprach, das man sich wünschen konnte.
    »Wenn ruhiges Wetter ist und ich wieder kräftig genug bin«, sagte sie, »wollen wir jeden Tag lange Spaziergänge zusammen machen. Dann gehen wir zu dem Pachthof am Rande des Hügels und sehen, was die Kinder dort machen; wir werden zu Sir Johns neuen Pflanzungen in Barton Cross und nach Abbeyland gehen; und wir werden oft die alten Ruinen der Priorei aufsuchen und ihren Fundamenten folgen, soweit sie einst gereicht haben sollen, wie man uns erzählt hat. Wir werden bestimmt glücklich sein, und der Sommer wird voller Freuden dahingehen. Ich will niemals später als sechs Uhr aufstehen, und von dieser Zeit bis zum Dinner werde ich jeden Augenblick mit Musik oder Lesen verbringen. Ich habe mir einen Plan gemacht, und ich bin entschlossen |373| , einen Kurs ernsthafter Studien zu beginnen. Unsere eigene Bibliothek kenne ich schon zu gut, als daß ich über bloßes Vergnügen hinaus darauf zurückgreifen könnte. Aber in Barton Park gibt es viele Werke, die es durchaus wert sind, gelesen zu werden; und es gibt andere, neuere Bücher, von denen ich weiß, daß ich sie mir von Colonel Brandon ausleihen kann. Wenn ich nur sechs Stunden am Tag lese, werde ich im Verlaufe eines Jahres eine Menge Kenntnisse gewinnen, an denen es mir, wie ich jetzt sehe, mangelt.«
    Elinor ehrte sie für ihren Plan, der einer so noblen Gesinnung entsprang, wenngleich sie lächeln mußte, weil sie darin dieselbe lebhafte Einbildungskraft erkannte, die Marianne auch bis zum äußersten zu lustloser Trägheit und selbstsüchtigen Klagen verleitet hatte, nur daß sie nun am Werke war, ihren Plan von vernünftiger Beschäftigung und ehrenhafter Selbstbeherrschung so zu übertreiben. Ihr Lächeln ging in einen Seufzer über, wenn sie daran dachte, daß sie ihr Versprechen gegenüber Willoughby noch nicht eingelöst hatte; und sie fürchtete, daß sie etwas zu übermitteln hatte, das Mariannes Gemüt wieder aus dem Gleichgewicht bringen und zumindest eine Zeitlang diese schöne Aussicht auf geschäftige Heiterkeit zunichte machen konnte. Da sie deshalb gewillt war, diese schlimme Stunde noch hinauszuschieben, beschloß sie, damit zu warten, bis die Gesundheit ihrer Schwester sich weiter gefestigt hatte. Doch dieser Vorsatz wurde nur gefaßt, um wieder fallengelassen zu werden.
    Marianne war schon zwei oder drei Tage wieder zu Hause, bevor das Wetter für eine Kranke wie sie schön genug war, um sich hinauszuwagen. Doch schließlich brach ein freundlicher, milder Morgen an – ein Morgen, wie die Tochter ihn sich nur wünschen konnte und dem auch die Mutter vertraute; und Marianne wurde gestattet, auf dem Weg vor dem Haus, auf Elinors Arm gestützt, so lange spazierenzugehen, wie es ihr möglich war, ohne zu ermüden.
    Die Schwestern machten sich auf zu einem so langsamen Gang, wie es Mariannes Schwäche zuließ, denn sie hatte seit ihrer

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