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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zurückgelassen! Dich, die du die ganze reizbare Selbstsucht meiner letzten Tage erlebt hast, die du alle Regungen meines Herzens gekannt hast! Wie hätte ich in eurer Erinnerung fortleben sollen? Und auch meine arme Mutter! Wie hättest du sie trösten können? Ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich mich selbst verabscheute. Immer wenn ich auf das Vergangene zurückblickte, sah ich eine vernachlässigte Pflicht oder eine Schwäche, der ich mich hingegeben hatte. Alle schienen von mir verletzt worden zu sein. Die Güte, die nie nachlassende Güte Mrs.   Jennings’ hatte ich mit undankbarer Geringschätzung vergolten. Zu den Middletons, den Palmers, den Steeles, selbst zu allen gewöhnlichen Bekannten war ich anmaßend und ungerecht gewesen – mein Herz war gefühllos gegenüber ihren Verdiensten, und gerade ihre Aufmerksamkeiten reizten und ärgerten mich. John und Fanny, ja selbst ihnen, so wenig sie es auch verdienen, hatte ich nicht genug Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber dir – dir vor allen andern und mehr noch als meiner Mutter – hatte ich unrecht getan. Ich, nur ich allein kannte dein Herz und wußte, was du leidest; doch wohin führte mich das – zu keinerlei Mitgefühl, das dir oder mir selbst zugute kommen konnte. Dein Beispiel hatte ich vor Augen, doch was nutzte es? War ich deshalb rücksichtsvoller dir und deinem Wohlbefinden gegenüber? Bin ich deshalb dem Beispiel deiner Geduld gefolgt, oder habe ich deshalb deine Pflichten verringert, indem ich in irgendeiner Weise teilgenommen habe an jenen Aufgaben, die allgemeine Höflichkeit oder besondere Dankbarkeit erforderten und die zu erfüllen bis dahin dir allein überlassen waren? Nein – selbst als ich wußte, daß du unglücklich warst, drückte ich mich ebenso wie zu der Zeit, als ich dich ohne Sorgen glaubte, vor jeder Pflicht und jedem Freundschaftsbeweis, ließ kaum andere Sorgen gelten als die meinen, trauerte |377| nur dem Herzen nach, das mich verlassen und mir Unrecht angetan hatte, und ließ zu, daß du, der ich meine grenzenlose Zuneigung beteuert hatte, um meinetwillen unglücklich warst.«
    Hier endete der rasche Fluß ihrer Selbstvorwürfe; und Elinor, die ungeduldig darauf wartete, sie zu besänftigen, wenngleich sie zu ehrlich war, ihr etwas Schmeichelhaftes zu sagen, spendete ihr sogleich das Lob und den Zuspruch, die ihre Offenheit und ihre Reue so sehr verdienten. Marianne drückte ihr die Hand und erwiderte: »Du bist sehr gütig. In der Zukunft muß ich mich bewähren. Mein Plan steht fest, und wenn ich imstande bin, mich daran zu halten, werde ich meine Gefühle beherrschen und meinen Charakter bessern können. Sie sollen nicht länger andere beunruhigen und auch mich selbst nicht mehr peinigen. Ich werde jetzt nur noch für meine Familie leben. Du, meine Mutter und Margaret müssen fortan
alles
auf der Welt für mich sein; ich werde meine Liebe allein zwischen euch teilen. Nie wieder wird es für mich den geringsten Anreiz geben, von euch, von meinem Zuhause, fortzugehen; und wenn ich wirklich einmal in andere Gesellschaft gehe, werde ich es allein deshalb tun, um zu zeigen, daß ich bescheidener geworden bin, daß sich mein Herz gebessert hat und daß ich Höflichkeit und alle geringeren Pflichten des Lebens mit Sanftmut und Geduld üben kann. Was Willoughby angeht, so wäre es vergeblich zu sagen, daß ich ihn bald oder überhaupt jemals vergessen werde. Die Erinnerung an ihn kann durch keine Änderung der Umstände oder Überzeugungen überwunden werden. Aber sie soll gelenkt werden, sie soll durch Frömmigkeit, Vernunft und ständige Beschäftigung beherrschbar werden.«
    Sie hielt inne und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Wenn ich doch nur sein Herz kennen würde, dann wäre alles leichter.«
    Elinor – die nun einige Zeit darüber nachgedacht hatte, ob es angebracht sei oder nicht, sich sogleich daran zu wagen, ihr von Willoughby zu berichten, einer Entscheidung aber nicht näher gekommen war – hörte dies, und da sie erkannte, daß |378| Überlegen zu nichts führte und Entschlußkraft das Ihre tun mußte, sah sie sich bald damit beginnen.
    Sie meisterte ihre Schilderung, wie sie hoffte, mit Geschick, bereitete ihre ängstlich lauschende Zuhörerin mit Umsicht vor, nannte ihr mit einfachen, aufrichtigen Worten die Hauptpunkte, auf die Willoughby seine Rechtfertigung gründete, würdigte seine Reue und milderte nur die Beteuerungen seiner noch immer großen Liebe. Marianne sagte kein Wort; sie zitterte,

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