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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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blickte zu Boden, und ihre Lippen wurden noch weißer, als ihre Krankheit sie gemacht hatten. Tausend Fragen tauchten in ihrem Herzen auf, aber keine einzige davon wagte sie vorzubringen. Sie sog jedes Wort mit atemloser Ungeduld ein; ihre Hand drückte fest die ihrer Schwester, ohne sich dessen bewußt zu sein, und Tränen bedeckten ihre Wangen.
    Elinor führte Marianne nach Hause, denn sie fürchtete, daß sie müde war; und bis sie die Haustür erreicht hatten, sprach sie – da sie sich leicht denken konnte, was Marianne alles wissen wollte, obgleich sie keine Frage zu stellen wagte – von nichts anderem als von Willoughby und ihrem Gespräch mit ihm; und sie berichtete jede Einzelheit seiner Worte und seines Aussehens mit großer Genauigkeit, dort wo sie sich Genauigkeit ohne Gefahr erlauben konnte. Sobald sie ins Haus traten, verließ Marianne ihre Schwester mit einem dankbaren Kuß und den durch ihre Tränen hindurch gerade noch verständlichen Worten »Erzähle es Mama« und ging dann langsam nach oben. Elinor wollte nicht versuchen, ein so vernünftiges Alleinsein zu stören, wie sie es nun suchte; und während sie in Gedanken das Ergebnis schon in banger Sorge vorhersah und den Entschluß faßte, das Thema wiederaufzugreifen, falls Marianne es nicht selbst tun würde, begab sie sich ins Wohnzimmer, um deren beim Hinaufgehen geäußerte Bitte zu erfüllen.

|379| Kapitel 47
    Mrs.   Dashwood hörte nicht ohne innere Bewegung die Rechtfertigung ihres früheren Günstlings. Sie freute sich, daß er nun von einem Teil der ihm angelasteten Schuld freigesprochen war; er tat ihr leid, sie wünschte ihm Glück. Aber die Gefühle der Vergangenheit ließen sich nicht mehr zurückrufen. Nichts konnte ihn Marianne mit einer ungebrochenen Treue, einem unbescholtenen Charakter wiedergeben. Nichts konnte das Wissen darum, was diese durch ihn gelitten hatte, noch sein schuldhaftes Verhalten gegenüber Eliza vergessen machen. Nichts konnte ihm deshalb ihre frühere Achtung wiedergeben oder Colonel Brandons Interessen schaden.
    Hätte Mrs.   Dashwood, wie ihre Tochter, Willoughbys Geschichte von ihm selbst gehört, hätte sie sein Elend mit angesehen und hätte sie sich unter dem Einfluß seines Gesichtsausdrucks und seines Verhaltens befunden, wäre ihr Mitgefühl wahrscheinlich größer gewesen. Doch lag es weder in Elinors Macht, noch wünschte sie durch ihre Wiedergabe seiner Erklärungen, Gefühle in jemand anders zu wecken, wie sie zuerst in ihr selbst hervorgerufen worden waren. Mit dem Nachdenken darüber hatte sie zu einem ruhigeren Urteil und einer besonneneren Meinung über Willoughbys Wert gefunden. Sie wollte daher nur die einfache Wahrheit berichten und nur solche Dinge enthüllen, die seinem Charakter wirklich entsprachen, ohne alle zartfühlenden Ausschmückungen, die die Phantasie auf Abwege führen.
    Am Abend, als sie alle beisammen waren, begann Marianne von selbst wieder, von ihm zu sprechen, doch es war nicht ohne Mühe, wie es die ruhelose, nervöse Nachdenklichkeit, |380| in der sie sich davor schon eine Zeitlang befunden hatte, die aufkommende Röte, während sie sprach, und ihre unsichere Stimme deutlich zeigten.
    »Ich möchte euch beiden versichern«, sagte sie, »daß ich alles so sehe, wie ihr es von mir wünschen könnt.«
    Mrs.   Dashwood hätte sie gern sogleich mit sanfter Zärtlichkeit unterbrochen, wenn Elinor, die wirklich die unvoreingenommene Meinung ihrer Schwester hören wollte, sie nicht durch eine beschwörende Geste zum Schweigen gebracht hätte.
    Marianne fuhr langsam fort: »Es hat mich sehr erleichtert – was Elinor mir heute morgen erzählt hat – ich habe nun genau das gehört, was ich mir gewünscht hatte.« Einige Augenblicke lang versagte ihr die Stimme, doch sie faßte sich wieder und fügte nun ruhiger als zuvor hinzu: »Ich bin jetzt vollkommen zufriedengestellt. Ich wünsche mir nichts anderes. Ich hätte niemals mehr glücklich mit ihm sein können, sobald ich all das erfahren hätte – was früher oder später ohnehin geschehen wäre. Ich hätte kein Vertrauen mehr gehabt, keine Achtung. Nichts hätte das in meinen Gefühlen auslöschen können.«
    »Das weiß ich, das weiß ich«, rief ihre Mutter, »glücklich werden mit einem Mann von so ausschweifenden Gewohnheiten! Mit einem Mann, der den Seelenfrieden unseres teuersten Freundes zerstört hat? Nein – das Herz meiner Marianne ist nicht von der Art, daß es mit einem solchen Mann glücklich werden kann! Ihr

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