Verstand und Gefühl
Krankheit noch keine solche körperliche Anstrengung |374| auf sich genommen; und sie waren nur so weit vom Haus fortgekommen, daß sie einen vollen Blick auf den Hügel, den so bedeutsamen Hügel hinter dem Haus, hatten, als Marianne mit einem Blick darauf innehielt und ruhig sagte: »Dort, genau dort«, und sie wies mit der Hand auf die Stelle, »auf diesem Vorsprung – dort bin ich gestürzt, und dort sah ich Willoughby zum ersten Mal.«
Ihre Stimme wurde leiser bei dem Namen, doch belebte sie sich sogleich wieder, und sie fügte hinzu: »Ich bin dankbar, daß ich mit so wenig Schmerz auf diese Stelle blicken kann! Werden wir jemals wieder über dieses Thema sprechen, Elinor?« Sie sagte es mit einem Zögern. »Oder ist es unrecht? Ich hoffe, ich
kann
jetzt so darüber sprechen, wie ich es auch sollte.«
Elinor ermutigte sie sanft, offen zu sprechen.
»Was das Bedauern angeht«, sagte Marianne, »das habe ich hinter mir, soweit es
ihn
betrifft. Ich will zu dir nicht darüber sprechen, wie meine Gefühle für ihn einmal gewesen sind, sondern wie sie
jetzt
sind. Wenn ich im Augenblick nur von einem Punkt überzeugt sein könnte – wenn ich glauben könnte, daß er nicht
immer
nur geheuchelt hat, mich nicht
immer
getäuscht hat – aber vor allen Dingen, wenn ich versichert sein könnte, daß er niemals so
sehr
schlecht war, wie ich ihn mir in meinen Befürchtungen seit der Geschichte mit diesem unglücklichen Mädchen manchmal vorgestellt habe ...«
Sie hielt inne. Elinor war unendlich froh über ihre Worte, als sie antwortete: »Wenn du dessen versichert sein könntest, glaubst du, du wärst erleichtert?«
»Ja. Mein Seelenfrieden hängt in zweifacher Hinsicht davon ab, denn es ist nicht nur schrecklich, jemand, der mir einmal so viel bedeutet hat, so schlimmer Absichten zu verdächtigen, schrecklich ist auch, wie ich mir selbst dabei erscheinen muß. Was sonst als eine äußerst beschämende, unbedachte Liebe hätte mich in eine Lage wie die meine bringen können ...«
»Wie«, fragte ihre Schwester, »würdest du dir denn sein Verhalten erklären wollen?«
|375| »Ich würde ihn – ach, wie gern würde ich ihn nur für wankelmütig – für sehr, sehr wankelmütig halten.«
Elinor sagte nichts darauf. Sie kämpfte mit sich, ob es angebracht sei, mit ihrem Bericht sofort zu beginnen, oder ob sie es noch aufschieben sollte, bis Marianne wieder kräftiger sein würde – und sie gingen ein paar Minuten lang sehr langsam und schweigend weiter.
»Ich wünsche ihm nicht sehr viel Gutes«, sagte Marianne schließlich mit einem Seufzer, »wenn ich ihm wünsche, daß seine geheimen Gedanken nicht unerfreulicher sein mögen als meine eigenen. Er wird genug dabei leiden.«
»Vergleichst du dein Verhalten mit dem seinen?«
»Nein. Ich vergleiche es mit dem, was es hätte sein sollen; ich vergleiche es mit dem deinen.«
»Deine Lage und meine haben wenig Ähnlichkeit miteinander.«
»Sie haben mehr Ähnlichkeit miteinander als unser Verhalten. Liebste Elinor, laß dich in deiner Güte nicht etwas verteidigen, von dem ich weiß, daß dein Urteil es mißbilligen muß. Meine Krankheit hat mich zum Nachdenken gebracht – sie hat mir Muße und Ruhe verschafft für ernste Besinnung. Lange bevor ich mich genügend erholt hatte, um sprechen zu können, war ich durchaus in der Lage, nachzudenken, und ich habe nachgedacht über das Vergangene. Ich sah in meinem eigenen Verhalten seit dem Beginn unserer Bekanntschaft mit ihm im letzten Herbst nichts als eine Kette von unklugen Handlungen und mangelnder Freundlichkeit gegenüber anderen. Ich erkannte, daß meine
eigenen
Gefühle mir meine Leiden bereitet hatten und daß mich mein Mangel an innerer Kraft dabei fast ins Grab gebracht hatte. Meine Krankheit – das weiß ich sehr wohl – habe ich ganz allein herbeigeführt, weil ich in einer Weise achtlos mit meiner Gesundheit umgegangen bin, wie ich sie selbst zu
der
Zeit schon als unrecht empfand. Wäre ich gestorben, wäre es Selbstzerstörung gewesen. Ich kannte die Gefahr erst, als sie vorüber war; doch bei solchen Gefühlen, wie meine Gedanken sie in mir hervorriefen, wundere ich mich über meine Genesung, wundere |376| ich mich, daß gerade die Heftigkeit meines Wunsches zu leben, um Zeit zu haben für Buße gegenüber meinem Gott und euch allen, mich nicht sofort getötet hat. Wäre ich gestorben, in welch unbeschreiblichem Elend hätte ich dich, meine Krankenpflegerin, meine Freundin, meine Schwester,
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