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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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eigenes Urteil muß Sie leiten.«
    »Sicher«, fuhr Lucy fort, nachdem beide ein paar Minuten geschwiegen hatten, »muß seine Mutter irgendwann einmal für ihn Sorge tragen, aber der arme Edward ist so deprimiert deswegen. Fanden Sie ihn nicht schrecklich niedergeschlagen, als er in Barton war? Er war so unglücklich, als er in Longstaple von uns fortging, um zu Ihnen zu kommen, daß ich schon fürchtete, Sie würden ihn für recht krank halten.«
    »Kam er von Ihrem Onkel, als er uns besuchte?«
    »O ja, er hat zwei Wochen bei uns zugebracht. Dachten Sie, er kam direkt aus der Stadt?«
    »Nein«, erwiderte Elinor, der jeder neue Umstand, der Lucys Wahrheitstreue bewies, sehr lebhaft bewußt wurde. »Ich erinnere mich, wie er uns erzählte, daß er zwei Wochen bei einigen Freunden in der Nähe von Plymouth zugebracht habe.« Sie erinnerte sich auch an ihre eigene Verwunderung zu der Zeit, daß er nicht weiter über diese Freunde sprach und selbst über ihre Namen völliges Schweigen bewahrte.
    »Fanden Sie ihn nicht äußerst deprimiert?« fragte Lucy noch einmal.
    »Ja, das taten wir, besonders als er ankam.«
    »Ich bat ihn, sich zusammenzunehmen, aus Furcht, Sie könnten vermuten, was los ist; aber es machte ihn so traurig, daß er nicht länger als zwei Wochen bei uns bleiben konnte und daß er mich so sehr betroffen sah. – Der Arme! Ich fürchte, es ist jetzt genau das gleiche mit ihm, denn er schreibt in einer so unglücklichen Stimmung. Ich hörte von ihm, unmittelbar bevor ich Exeter verließ«; und sie nahm einen Brief aus ihrer Tasche und zeigte Elinor nachlässig die Adresse. »Sie kennen bestimmt seine Handschrift, sie ist ganz |150| reizend. Aber das ist nicht so gut geschrieben wie sonst. Er war gewiß müde, denn er hatte gerade diesen einen Briefbogen ganz vollgeschrieben.«
    Elinor sah, daß es tatsächlich seine Handschrift war, und sie konnte nicht mehr zweifeln. Das Bild – so hätte sie gerne geglaubt – könnte Lucy zufällig erhalten haben; es war vielleicht gar kein Geschenk von Edward. Doch einen Briefwechsel zwischen ihnen konnte es nur im Falle einer tatsächlichen Verlobung geben, er konnte durch nichts anderes berechtigt sein; einige Augenblicke lang übermannte sie das beinahe – ihr sank der Mut, und sie konnte sich kaum aufrecht halten, doch es war unbedingt notwendig, sich zusammenzunehmen, und sie kämpfte so entschlossen gegen die Bedrängnis ihrer Gefühle an, daß der Erfolg sich rasch und für den Augenblick vollständig einstellte.
    »Einander schreiben«, sagte Lucy, während sie den Brief wieder in ihre Tasche steckte, »ist der einzige Trost, den wir bei so langen Trennungen haben. Ja, ich habe wenigstens noch einen anderen Trost durch sein Bild, aber der arme Edward hat nicht einmal das. Wenn er nur mein Bild hätte, sagt er, wäre er ruhiger. Ich gab ihm eine Locke von meinem Haar, in einen Ring eingefaßt, als er das letzte Mal in Longstaple war, und das sei ein gewisser Trost für ihn, sagte er, es komme aber nicht einem Bild gleich. Vielleicht haben Sie den Ring bemerkt, als er bei Ihnen war?«
    »Ja«, sagte Elinor in ruhigem Ton, hinter dem sie eine Erregung und einen Schmerz verbarg, die alles übertrafen, was sie bisher erlebt hatte. Sie war gekränkt, empört, verwirrt.
    Zum Glück für sie hatten sie nun Barton Cottage erreicht, und die Unterhaltung konnte nicht fortgesetzt werden. Nachdem die Misses Steele ein paar Minuten bei ihnen geblieben waren, gingen sie nach Barton Park zurück, und Elinor konnte sich nun ungestört ihren Gedanken hingeben und unglücklich sein.

|151| Kapitel 23
    Wie gering Elinors allgemeines Vertrauen in Lucys Wahrheitsliebe auch sein mochte, es war bei ernsthafter Überlegung unmöglich für sie, ihr in diesem Fall nicht zu glauben, in dem keine Versuchung die Torheit hätte rechtfertigen können, eine Unwahrheit von solcher Art zu erfinden. Was Lucy behauptet hatte, daran konnte und wagte Elinor daher nicht länger zu zweifeln – erhärtet, wie es außerdem von allen Seiten durch Wahrscheinlichkeiten und Beweise war, denen sich lediglich ihre eigenen Wünsche widersetzten. Die Gelegenheit, die sie gehabt hatten, sich im Hause von Mr.   Pratt kennenzulernen, war der Ausgangspunkt für alles übrige, war unbestreitbar und beunruhigend zugleich; und Edwards Besuch in der Nähe von Plymouth, sein melancholischer Gemütszustand, seine Unzufriedenheit mit seinen eigenen Aussichten, sein unbestimmtes Verhalten ihr gegenüber, die so

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