Verstand und Gefühl
den sie in jeder Kutsche, die sich ihrem Haus näherte, wiederzusehen hoffte.
Die Notwendigkeit, vor ihrer Mutter und Marianne zu verbergen, was ihr im Vertrauen gesagt worden war, zwang sie zwar zu ständiger Achtsamkeit, doch machte das ihren Schmerz nicht größer. Es war im Gegenteil eine Erleichterung für sie, daß es ihr somit erspart blieb, ihnen etwas mitzuteilen, was ihnen soviel Kummer bereiten würde – und daß sie gleichfalls davor bewahrt blieb, die Verdammung Edwards anzuhören, die das Übermaß ihrer parteilichen Liebe zu ihr vermutlich hervorrufen würde und die zu ertragen über ihre Kräfte gegangen wäre.
|154| Sie wußte, daß sie von ihrem Rat oder ihren Äußerungen keine Hilfe empfangen konnte; ihre Zärtlichkeit und Sorge mußten ihren eigenen Kummer nur noch größer machen, und ihre Selbstbeherrschung würde weder durch ihr Beispiel noch durch ihr Lob eine Ermutigung erfahren. Sie war stärker allein, und ihre eigene gesunde Vernunft half ihr so sehr, daß sie ihr eine so unerschütterliche Festigkeit, ein so unwandelbar heiteres Auftreten ermöglichte, wie es bei einem so bitteren und frischen Schmerz nur denkbar war.
Soviel sie auch durch das erste Gespräch mit Lucy über dieses Thema gelitten hatte, so hatte sie doch bald den dringenden Wunsch, erneut darüber zu sprechen, und dies aus mehr als nur einem Grund. Sie wollte viele Einzelheiten über diese Verlobung noch einmal hören, sie wollte genauer wissen, was Lucy wirklich für Edward empfand, ob überhaupt echte Aufrichtigkeit in ihrer Erklärung lag, daß sie ihn zärtlich liebe; und ganz besonders wollte sie Lucy durch ihre Bereitschaft, wieder darauf einzugehen, und durch ihre Gelassenheit, während sie darüber sprachen, davon überzeugen, daß sie allein als eine Freundin daran interessiert war; denn sie fürchtete sehr, daß ihre unwillkürliche Erregung bei ihrem morgendlichen Gespräch dies zumindest zweifelhaft gemacht haben mußte. Daß Lucy eifersüchtig auf sie war, schien ihr sehr wahrscheinlich; es war klar, daß Edward stets mit großer Hochachtung von ihr gesprochen hatte – und das ging nicht nur aus Lucys Versicherung hervor, sondern auch daraus, daß sie es gewagt hatte, ihr bei einer so kurzen persönlichen Bekanntschaft ein so zugegebenermaßen und offensichtlich bedeutendes Geheimnis anzuvertrauen. Und selbst Sir Johns im Scherz gemachte Äußerung mußte dabei mitgespielt haben. Doch während sich Elinor im Innern ganz sicher war, daß Edward sie wirklich liebte, bedurfte es keiner weiteren Mutmaßungen, um es als ganz natürlich anzusehen, daß Lucy eifersüchtig war; und gerade ihre vertrauliche Mitteilung war ein Beweis dafür. Welchen anderen Grund für die Offenbarung der Verlobung könnte es sonst geben, als daß Elinor dadurch von Lucys älteren Ansprüchen an Edward erfahren und ihr zu verstehen gegeben |155| werden sollte, daß sie ihn in Zukunft zu meiden hatte? Es fiel ihr nicht schwer, soweit die Absichten ihrer Rivalin zu durchschauen, und sie war fest entschlossen, nach dem Grundsatz von Ehre und Aufrichtigkeit an ihr zu handeln, gegen ihre eigene Liebe zu Edward anzukämpfen und ihn so wenig wie möglich zu sehen; sie konnte sich jedoch nicht den Trost versagen, Lucy, so gut sie es vermochte, davon zu überzeugen, daß sie in ihrem Herzen nicht getroffen war. Und da sie nicht noch mehr Schmerzliches erfahren konnte als das, was schon gesagt worden war, traute sie sich durchaus zu, die Wiederholung aller Umstände mit Gelassenheit durchzustehen.
Doch es bot sich nicht so rasch eine Gelegenheit dazu, obgleich Lucy ebensosehr wie sie selbst bereit war, jede zu nutzen, die sich ergab; das Wetter war oft nicht gut genug, um ihnen allen zu gestatten, sich zu einem Spaziergang zusammenzufinden, bei dem sie sich sehr leicht von den anderen absondern konnten; und obgleich sie sich zumindest jeden zweiten Abend in Barton Park oder Barton Cottage trafen – meistens in Barton Park –, wurde von ihnen nicht erwartet, daß sie zusammenkamen, um sich miteinander zu unterhalten. Ein solcher Gedanke wäre weder Sir John noch Lady Middleton jemals gekommen, und so ließ man ihnen sehr wenig Muße für eine allgemeine Plauderei, und schon gar keine für besondere Gespräche. Sie trafen sich, um zu essen, zu trinken und miteinander zu lachen, um Karten zu spielen, Schreibspiele oder irgendwelche anderen Spiele zu veranstalten, bei denen es nur genügend laut zuging.
Ein paar Zusammenkünfte dieser Art
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