Versteckt
eine Melone fallen lässt. Und dann bin ich ohnmächtig geworden.
Jimmy ist ins Koma gefallen und gestorben. Da wusste meine Mutter schon alles. Den Hund haben wir weggegeben. Wir konnten ihn einfach nicht mehr bei uns behalten. Mein Vater blieb ungefähr ein Jahr lang trocken …«
Sie ließ sich erschöpft in den Sitz zurückfallen.
Ich beobachtete sie, schwieg. Konnte ich sie jetzt besser verstehen? War ich jetzt schlauer als vorher?
»Und heute Abend?«
Sie zögerte einen Augenblick, dann lachte sie los. Und dieses Lachen zeigte, wie hart sie wirklich war.
»Heute Abend besaß mein Vater, der wohl ein paar Martinis zu viel intus hatte, die Frechheit, seine Hände auf meine Schultern zu legen und mir einen Kuss auf die Wange zu geben.«
Sie sah mich an, und in ihren Augen lag wieder diese grausame Gleichgültigkeit wie an jenem Tag am Strand, als sie von dem Felsen auf Steven heruntergesehen hatte, nackt und furchteinflößend.
»Er darf mich nicht berühren. Niemals. Ich berühre ihn, wenn mir danach ist, alles andere ist inakzeptabel. Und wenn er das vergisst, lasse ich es ihn spüren. Jedes verdammte Mal.«
Ich kannte mal ein Mädchen hier aus dem Ort, das angeblich mit ihrem Vater geschlafen hatte, ein mageres kleines Ding mit angsterfüllten Augen. Sie drückte immer ihre Schulbücher ganz fest an die Brust und raste auf ihren dürren Beinchen von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, als wäre etwas sehr Großes und Böses hinter ihr her. Neben mir saß das genaue Gegenteil. Sie hatte vielleicht Ähnliches durchmachen müssen, nur hatte sie diese Erfahrung nicht gebrochen, sondern abgehärtet, auch körperlich nur noch stärker gemacht. Casey neben mir hatte den Spieß umgedreht und war mit einer Grausamkeit auf ihren Peiniger losgegangen, bei der das andere Mädchen bloß hätte staunen können – obwohl sie es sicher nur zu gut verstanden hätte.
Trotzdem. Ich hatte diesen Mann ja kennengelernt, und er war nicht mehr als ein Schatten. Fast durchsichtig, völlig unauffällig. Das war wahrscheinlich mein ganz persönlicher blinder Fleck, und vielleicht sah ich einfach nicht, was ich nicht sehen wollte.
»Fahren wir«, sagte sie.
Ich ließ den Motor an. Wie oft hatte sie das schon zu mir gesagt? Fahren wir. Fahr los. Egal wohin. Soll der schwarze Asphalt die Zeit schlucken.
Fahr los, sagt der Verlorene zum Überflüssigen.
Und da begriff ich plötzlich, wie ich ins Bild passte. Und Kim und Steven.
Wir lenkten sie ab, mehr nicht. Ich lenkte sie ab mit meiner Leidenschaft und, wenn wir Glück hatten, manchmal auch mit einem Orgasmus. Steven und Kim waren für die Freundschaft zuständig, wohl mehr aus alter Gewohnheit. Sie leisteten ihr Gesellschaft. Nichts – nicht mal ihren Vater oder die Erinnerung an ihren Bruder – ließ sie an sich herankommen. Jetzt nicht mehr. Alle anderen hatte sie aus ihren Gedanken verbannt. Vielleicht sind wir ja in Wahrheit alle so, keine Ahnung.
Jeder ist einsam. Im Grunde unseres Herzens sind wir allein. Nur dass manche diesem Umstand den Krieg erklären und andere nicht.
Damit will ich nicht über Casey urteilen. Sie hatte gute Gründe für ihr Verhalten, und sie wusste sich nicht anders zu helfen. Es lag nicht in ihrer Natur, dass sie so grausam war.
Denn Krieg bedeutet immer auch Tod. Und der Tod ist ansteckend und nicht wählerisch. Heute Abend hatte sie eine leichte Infektion überwunden, doch um welchen Preis: ein Stück ihres Vaters, ein Stück von mir. Und von ihr auch. Sie starb. In ihrem Inneren würde sie immer sterben. Casey würde weiterleben, aber nicht unversehrt. Es gab Regeln, die selbst sie nicht brechen konnte. Und das Gute in ihr war so verletzlich wie das Böse.
Ich fuhr. Bleierne Stille herrschte im Wagen. Ich starrte stur auf die Straße im Scheinwerferlicht, als würden meine Augen und die Lampen eine Einheit bilden.
Sie wollte kein Mitleid. Sie hatte ihr Herz ausgeschüttet und sich ihr Selbstvertrauen wieder von mir zurückgeholt, um es gut in ihrem Herzen zu verwahren. Am nächsten Morgen würden die zerbrochenen Fensterscheiben der einzige Beweis dafür sein, dass es überhaupt geschehen war.
Ich fuhr. Langsam durch die Dörfer und über Feldwege und schnell – sehr schnell – auf den langen Hügelstrecken dazwischen. Am Straßenrand saß ein Hase wie erstarrt im Scheinwerferlicht. Die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war klar und voller Sterne, der Mond schien hell. Jetzt fühlte ich mich, als hätte ich ein Ziel vor Augen
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