Versteckt
weiter. Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde nach Tauwürmern Ausschau halten, weil sie angeln gehen wollte. Was natürlich völlig abwegig war. Schließlich bückte sie sich, hob etwas auf, wog die Gegenstände prüfend in den Händen und richtete sich wieder auf.
Von diesem Moment an waren ihre Bewegungen völlig effizient. Das war wieder die Casey, die mir nur allzu vertraut war.
Offensichtlich wusste sie genau, was sie tat. Sie trat drei Schritte zurück und sah zum linken Vorderfenster auf, hinter dem das Licht einer Stehlampe schimmerte. Ich rief mir das Innere des Hauses in Erinnerung – wahrscheinlich befand sich dort das Arbeitszimmer ihres Vaters.
Ich kann das Geräusch von splitterndem Glas nicht besonders gut leiden.
Als Kind hatte ich eine Katze, die eines Nachts das ganze Haus aufweckte, als sie eine billige Kristallglasvase umstieß. Ich war so schnell aus dem Bett und in der Küche, dass ich noch im Halbschlaf war. Und anschließend musste meine Fußsohle mit sieben oder acht Stichen genäht werden.
So ähnlich war es auch diesmal.
Ich griff zum Zündschlüssel, sobald der erste Stein durchs Fenster flog. Das Klirren hallte noch in meinen Ohren, da hatte ich schon den Gang eingelegt und den Fuß auf der Bremse. Es war sowohl Instinkt als auch Selbsterhaltungstrieb.
Es war zwar ihr Haus, aber ich vermutete, dass es mir an den Kragen gehen würde.
Mir schnürte es die Kehle zusammen.
»Scheiße!«, rief ich. »Schnell!«
Sie beachtete mich gar nicht.
Mit derselben Effizienz wie zuvor überquerte sie den Feldsteinpfad und stellte sich auf die andere Rasenfläche. Ich wusste sofort, was sie vorhatte, worauf das alles hinauslief – und nichts konnte sie aufhalten. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Nach ihr zu rufen hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Das Klirren war so laut gewesen, dass inzwischen die ganze Nachbarschaft auf den Beinen hätte sein müssen. Doch noch war alles ruhig. Sie marschierte über den Rasen und einen Schotterweg zum nächsten Grundstück.
Ich warf einen Blick auf ihr Haus. Meine schweißnassen Hände schlossen sich um das Lenkrad, als ich ihren Vater am Fenster erkannte. Ich sah ihn im Profil, wie er die Glasscherben anstarrte, die ihm vom Boden seines Arbeitszimmers entgegenfunkelten.
Dann drehte er sich langsam um, stützte sich vorsichtig mit den Handflächen am Fensterbrett ab und sah mich an.
Ich wandte mich unwillkürlich ab.
In seinem Blick lag eine so große Trauer, dass ich mich schuldig fühlte.
Dann klirrte es wieder, diesmal noch lauter. Sie hatte den zweiten Stein durch das rechte Vorderfenster des Nachbarhauses geschleudert.
Ich brauchte nicht nach dem Grund zu fragen. Ich wusste, warum sie es getan hatte: Jetzt würden Fragen gestellt werden, viele Fragen. Und ihr Vater würde einige davon beantworten müssen.
Jemand schrie. Eine Frau. Ein Mann. Casey richtete sich auf, zufrieden mit ihrer Arbeit. Eine Glasscherbe löste sich vom oberen Rand des Rahmens, fiel herab wie die Klinge einer Guillotine und zerbrach auf dem Fensterbrett. Die Schreie klangen fast hysterisch.
Sie schlenderte in aller Seelenruhe zum Auto zurück.
Am liebsten hätte ich sie einfach stehen lassen. Ich warf einen weiteren Blick auf ihr Haus. Ihr Vater war nicht mehr zu sehen, dafür wurde das Verandalicht eingeschaltet. Gleich würde er aus dem Haus stürmen. Ich lehnte mich aus dem Wagen.
»Steig ein, verdammt noch mal!«
Furcht ist das beste Mittel gegen Mitleid.
Als sie endlich im Auto saß, war ich stocksauer. Ich war wütend und hatte Angst und bekam mich gerade so weit unter Kontrolle, um nicht mit durchdrehenden Reifen davonzurasen. Stattdessen fuhr ich ganz langsam los.
Nichts gesehen, nichts gehört.
Das würde mir kein Mensch abkaufen.
Am liebsten hätte ich sie geschlagen.
Der Drang war so stark, dass meine Schultern zitterten. Ich konnte sie noch nicht einmal ansehen. Wie hatte sie mich da nur mit hineinziehen können, wieso hatte sie mir das angetan? Nicht nur den Nachbarn oder ihren Eltern – aus welchen idiotischen Gründen auch immer –, sondern mir. Ich hatte ihr ja wohl nichts getan. Ich hatte sie nicht darum gebeten.
Oder?
Mir ging alles Mögliche durch den Kopf. Beinahe hätte ich die Beifahrertür aufgerissen und sie aus dem Auto geschubst. Während der Fahrt. Scheiß auf sie. Wenn sie mir so etwas antun konnte, dann scheiß auf sie.
Ich fuhr langsam und beherrscht über die nächsten beiden Kreuzungen hinweg und
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