Versteckt
– was ich mir natürlich nur einredete. Dieses Ziel war das Gefühl der Bewegung, das Auto, das die Nacht durchschnitt.
Wir kamen durch Eastport und Perry und Pembroke, bogen in Richtung Süden nach Whiting ab, und ich merkte gar nicht, dass wir im Kreis fuhren. Vor meinen Augen zog ein Dorf nach dem anderen vorbei, und jedes kam mir bekannt vor und ähnelte dem vorigen.
Um zwei Uhr nachts fuhren wir dann nach Dead River zurück. Die Straßen waren völlig verlassen. Meilenweit war kein Auto zu sehen. Bei West Lubec mussten wir über eine Holzbrücke und kamen an einer kleinen, knochenweißen und schon halb verfallenen Dorfkirche vorbei.
»Halt an«, sagte sie.
13
Sie stieg aus und ging auf die Kirche zu. Ich folgte ihr. Die Grillen und Frösche unter der Brücke schufen einen einzigen dröhnenden Klangteppich.
Die Tür war lediglich mit einem einfachen Vorhängeschloss gesichert. Wahrscheinlich gab es hier nicht viel zu stehlen.
Die weiße Farbe war rissig und blätterte ab. Casey zog einen langen Streifen von der Tür. Das Schloss war verrostet, und ich schnippte mit dem Daumen dagegen.
»Ziemlich runtergekommen.«
»Mir gefällt’s.«
Wir spähten durchs Fenster. Im Inneren war es so dunkel, dass wir nicht viel erkennen konnten. Ein paar Holzbänke. Weiter hinten ragte im schwachen Mondlicht so etwas wie ein kleiner Altar auf. Wir gingen um die Kirche herum.
»Ziemlich alt. Bestimmt hundert Jahre oder mehr.«
Sie hörte mir gar nicht zu, sondern packte plötzlich meinen Arm.
»Schau mal.«
Hinter der Kirche standen hinter einem schmiedeeisernen Zaun zu unserer Linken etwa dreißig Grabsteine – zerbrochen und verwittert.
»Komm mit.«
Sie nahm meine Hand, und wir spazierten durch die Reihen der schiefen Steine. Vor jedem einzelnen zündeten wir ein Streichholz an, um die Inschrift lesen zu können.
Geliebte Gattin. Geliebte Tochter.
Die meisten waren wohl Mitte des 19. Jahrhunderts gestorben. Viele waren Frauen und sehr jung.
»Im Kindbett«, sagte Casey. »Lydia, Gattin von John Pritchett. Gestorben im Kindbett am dreißigsten September 1876 im dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Sarah, Tochter von Mr. Jonathan Clagg, Gattin von William Lesley, gestorben am dreizehnten Juni 1856 im achtzehnten Lebensjahr. Die vielleicht auch.«
Bei einer Inschrift mussten wir lachen. Elisha Bowman. Gestorben am 21. März 1865 im Alter von 33 Jahren, einem Monat und 14 Tagen. Treu im Glauben, dass nur der Erfolg der Demokratischen Partei diese Nation retten kann. Umrahmt von einer schönen Bildhauerarbeit.
Ich zündete ein weiteres Streichholz an, um das Kunstwerk genauer zu betrachten. Ein Skelett stand in einer Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss. Der Schädel grinste, und der Knochenmann hielt einen Apfel in der einen und ein Stundenglas in der anderen Hand. Darunter waren zwei Fledermäuse. Darüber zwei Seraphim. Recht aufwendig für eine enttäuschte, bereits mit dreiunddreißig Jahren gestorbene Optimistin.
Dann entdeckte ich eine Inschrift, die mir noch besser gefiel: Hier liegen die sterblichen Überreste von Bill Trumbell. Er hatte seinen Spaß, solange er hier war.
Schon komisch, dass nachts an einem solchen Ort selbst das eigene Lachen gespenstisch klingt. Man flüstert, als wäre man nicht allein. Und vielleicht stimmt das ja auch. Eine hundertjährige Parade von Trauernden, die am selben Ort stehen und über die Vergangenheit und den Verlust ihrer Liebsten nachgrübeln. Die Aura des letzten Sakraments, das einfachen Menschen zuteilwurde, die noch an Gott und den Teufel und die Demokraten glaubten.
Und die Leute unter der Erde.
An Gift und Masern und Schusswunden und im Kindbett gestorben. Die ruhelosen Toten. Man hört sie im raschelnden Laub, sieht sie in den schiefen Grabsteinen.
»Guck mal, eine Jungfrau.«
Ich ging zu ihr hinüber.
Der Stein war bereits gegen einen kleineren daneben gekippt. Casey ging in die Hocke. Gleich würde ihr das Streichholz die Finger verbrennen. Sie blies es aus und zündete das nächste an.
Wir lasen die Inschrift. Hier ruhet in Gott Elizabeth Cotton, Tochter des Reverend Samuel Cotton selig aus Sandwich, Massachusetts, als Jungfrau gestorben am 12. Oktober 1797 im sechsunddreißigsten Lebensjahr. Sie war ohne Sünde. Das war der älteste Stein, den wir bisher entdeckt hatten.
»Die Arme. Die hätte mal den guten Bill Trumbell da drüben kennenlernen sollen.«
»Ich finde das sehr traurig«, sagte Casey.
Das Streichholz ging aus, und sie riss
Weitere Kostenlose Bücher