Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
das nicht auf den Tisch haut und sagt: Da machen wir nicht mit! Ich würde mir einen Putsch des Europäischen Parlaments wünschen. Dann könnte es diesen Unsinn mit 27 Kommissaren abschaffen und die EU endlich funktionstüchtig machen.
Würden Sie trotzdem sagen: Europa ist überlebensfähig und wird eine Großmacht bleiben?
Europa ist überlebensfähig, das würde ich unterschreiben. Bei dem zweiten Punkt hätte ich Zweifel; gegenwärtig ist die EU keine Großmacht.
Wird die parlamentarische Demokratie in den westlichen Staaten das vorherrschende Modell bleiben?
Erstens muss man das hoffen, und zweitens muss man alles dafür tun. Aber ganz sicher kann man sich nicht sein. Was wir zum Beispiel in Italien mit Herrn Berlusconi erleben, ist so etwas wie Diktatur durch Populismus. Diese Gefahr gibt es.
Glauben Sie, dass Russen und Chinesen sich mit der Zeit in Richtung Demokratie entwickeln werden?
Die Chinesen entwickeln sich in Richtung Meinungsfreiheit, nicht notwendigerweise in Richtung Demokratie. Der Staat spielt nach wie vor eine Riesenrolle, aber sie haben im Lauf der letzten 25 Jahre ein erhebliches Maß an geistiger Freiheit entfaltet – was der Westen nicht mitbekommen hat. Heute können Sie an einer chinesischen Hochschule, sogar auf der Parteihochschule, über fast jedes Thema der Welt debattieren. Das ist ein unglaublicher Fortschritt!
Und in Russland?
In Russland verläuft dieser Prozess viel langsamer. Dort sind zwar Fortschritte in Richtung formaler Demokratie gemacht worden, es gibt zum Beispiel ein Mehrparteiensystem. Aber an geistiger und politischer Freiheit mangelt es.
Sie haben vorhin eine tripolare Welt skizziert, mit Amerika, China und Europa in den Hauptrollen. Was wird aus Russland?
Russland wird im Laufe des Jahrhunderts eine immer geringere Rolle spielen – obwohl es dort eine Masse an Rohstoffen gibt, die zum Teil bisher noch nicht einmal exploriert sind. Aber die politische Kultur, die Art und Weise, wie das Land regiert wird, hat sich seit Iwan dem Schrecklichen nicht sonderlich geändert. Heute gibt es dort zwar mehrere Parteien, aber nach wie vor ein Staatsregiment.
Und das Staatsregiment ist eher ein Hemmschuh?
Ja. Die Russen haben es ja komischerweise nicht fertiggekriegt, ihr enormes technisches Wissen und Können zu nutzen und anstelle von Kriegswaffen und Raketen zum Beispiel Kühlschränke und Küchengeräte zu produzieren. Denken Sie nur an die Sputniks: Die ersten Satelliten im All waren aus Russland! Es ist zum Heulen, wenn man sieht, wie dieser unglaubliche Sachverstand verloren geht. Die besten Leute sind ins Ausland gegangen und sind jetzt Professoren in Harvard – und zu Hause ist wenig.
Fühlen Sie sich vom Islam bedroht?
Ich fühle mich nicht bedroht. Aber ich glaube, dass man die mehr als 15 Jahre alte Prognose von Samuel Huntington, den clash of civilizations, für möglich halten muss. Wie wahrscheinlich dieser clash ist, ist eine andere Frage. Aber dass er völlig unmöglich sei, kann heute keiner mehr behaupten.
Wo sehen Sie Gefahrenherde?
Das größte islamisch geprägte Land der Welt ist Indonesien. Es hat 240 Millionen Einwohner, weitgehend Muslime. Die werden eines Tages aufwachen. Und dann gibt es die Staaten rund um den Persischen Golf. Sie haben sehr viel Öl, sehr viel Geld und große Überschüsse. Man kann sich durchaus vorstellen, dass diese Staaten viel Geld nicht nur in künstliche Erholungsinseln stecken wollen. Sie könnten damit auch etwas anderes machen. Zum Beispiel Indonesien finanzieren – oder Algerien oder Ägypten oder einen islamischen Staatenverbund.
Gibt es sonst noch etwas, das Ihnen Sorgen macht?
Ja. Ich halte die virulente Überheblichkeit des Westens gegenüber dem Islam für töricht. Die gibt es seit über tausend Jahren; sie wurde und wird auch im Vatikan betrieben. Und inzwischen ist es für die meisten Amerikaner und Europäer ziemlich selbstverständlich geworden, auf den Islam hinunterzuschauen.
Glauben Sie im Ernst, dass man Selbstmordattentate durch eine respektvollere Haltung gegenüber dem Islam verhindern könnte?
Nein, das glaube ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass die Überheblichkeit des Westens gewaltig dazu beiträgt, dass junge Leute, die arbeitslos sind und in ihrem Land ökonomische, soziale und politische Missstände erleben, sich radikalisieren lassen. Das ist ja nichts Neues.
Ich möchte noch einmal auf Ihre Medienkritik zurückkommen: Glauben Sie wirklich, dass die Leute heute noch
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