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Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Titel: Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt , Giovanni di Lorenzo
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die Wahrnehmung durch das Publikum. In den fünfziger Jahren hat man in Deutschland Zeitung gelesen und ein bisschen Radio gehört; wer Spitzenpolitiker sehen wollte, musste zu Massenveranstaltungen gehen. Als das Fernsehen aufkam, wurden Parlamentsdebatten stundenlang übertragen. Heute gibt es das Internet, man kann twittern, man kann alles Mögliche tun …
    … dass Ihnen das Wort »twittern« über die Lippen geht!
    Das habe ich wohl gelesen … (lacht) Jedenfalls neigen die Medien heute dazu, manches wegzulassen, was eigentlich wichtig ist, und manches zu übertreiben, was nicht so wichtig ist. Sie verführen die Politiker in anderer Weise als früher. Heute setzt sich zum Beispiel kaum ein Politiker mehr wochenlang an den Schreibtisch, um eine große Rede zu der Grundsatzfrage auszuarbeiten, ob man bei Bürgerkriegen in fremden Ländern von außen eingreifen soll und darf. Manch einem Politiker genügt es, an einer Talkshow zu diesem Thema teilzunehmen. Er sagt dort seine Meinung. Das reicht ihm.
    Wie wichtig ist es, dass Politiker bei ihren Überzeugungen bleiben, auch wenn der Großteil der Bürger gerade anderer Meinung ist? Ich denke da auch an die Energiewende der jetzigen Bundesregierung nach der Katastrophe von Fukushima.
    Wenn ein großer Teil der Bürger oder der sogenannten öffentlichen Meinung gegenteiliger oder auch nur anderer Meinung ist, dann sollte ein Politiker das ernst nehmen. Es sollte ihn zur Überprüfung seiner Auffassung führen. Falls dann jedoch sein Gewissen ihm sagt: Das öffentliche Wohl gebietet dir, bei deiner Meinung zu bleiben – dann hat er keine Wahl, dann muss er seinem Gewissen gehorchen.
    Was trifft denn nun bei der Kernkraft zu?
    Hier handelt es sich nicht nur um das öffentliche Wohl des eigenen Landes oder der eigenen Nation. Vielmehr sind wir hinsichtlich unserer Elektrizitätsversorgung aus Kernkraftwerken mit mehreren Nachbarstaaten eng verzahnt, und außerdem haben wir an eigenen Energiequellen nur Braunkohle und Windkraft, jedoch kaum Öl, Gas und Steinkohle. Wir sind energiepolitisch abhängig von der Welt. Diese durchaus risikoreiche Abhängigkeit muss einbezogen werden, wenn wir über das öffentliche Wohl nachdenken. Die im internationalen Vergleich besonders großen Gemütsaufwallungen in Deutschland sind allein noch kein kompetenter Ratgeber für das Gewissen unserer Politiker.
    Gilt das Ihrer Meinung nach auch, wenn Parteien und Politiker dadurch ihre Abwahl riskieren?
    In jeder Demokratie müssen die Politiker oft genug Kompromisse eingehen, damit eine Mehrheit zustande kommt. Wer jedweden Kompromiss ablehnt, der ist als Demokrat nicht zu gebrauchen. Bisweilen muss ein Demokrat auch Kompromissen zustimmen, die ihm tief missfallen.
    Muss er?
    Sofern sein Gewissen ihm in einem konkreten Fall die Zustimmung verbietet, so bleibt ihm nur die Möglichkeit zum offenen Dissens. Der Dissens kann ihn zum Rücktritt vom Amt zwingen, er kann ihn die Wahl kosten. Wenn ein Amtsinhaber oder ein Abgeordneter dieses Risiko nicht eingehen will, weil etwa sein Opportunismus stärker ist als sein Gewissen, dann sollte das Wählerpublikum ihn aus diesem Grunde abwählen – wenn es denn jenen Politiker durchschaut.
    Haben sich die Erwartungen an Politiker im Vergleich zu Ihrer aktiven Zeit verändert?
    Im Prinzip nein. Ein Politiker muss, um unabhängig zu sein, einen Beruf ausgeübt haben, in den er zurückkehren kann. Jemand, der in die Politik geht, ohne einen Beruf zu haben, kann mir gestohlen bleiben. Ich kenne leider mehr als genug von denen! Zweitens muss er sich, wie gesagt, einen geschichtlichen Überblick verschaffen. Drittens muss er sich spezialisieren. Und viertens muss er lernen, dass in einer Demokratie niemand seine Meinung zu hundert Prozent durchsetzen kann.
    Das zu vermitteln fällt vielleicht am schwersten!
    Ja, aber das ist ein Versäumnis der Medien. Journalisten finden es unerhört, wenn in einer Partei Streit herrscht, sie stürzen sich darauf und machen sich darüber lustig. Tatsächlich ist Streit in einer Demokratie aber unerlässlich. Und ebenso unerlässlich ist es, dass der Streit schließlich in einen Kompromiss mündet. Das ist nichts Anrüchiges, sondern eine Tugend.
    Braucht ein erfolgreicher Politiker nicht auch eine gewisse Aggressivität?
    Nicht unbedingt Aggressivität, aber wenn er auf polemische Weise attackiert wird, muss er sich so verteidigen können, dass das Publikum ihn nicht als Verlierer ansieht. Er muss in der Lage sein, im

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