Verstohlene Blicke - Erotischer Roman
Gewissen wegen ihres Reichtums zu beruhigen. Während sie die angefaulten Äpfel in eine Tonne warf (die bekam der Bauer im Nachbarort als Schweinefutter), wurde ihr wieder einmal bewusst, wie gut es ihr doch ging. Die Menschen, die in den Laden kamen, um für den symbolischen Beitrag von einem Euro ihren Beutel mit Lebensmitteln zu füllen, waren, oft ohne eigenes Verschulden, am Rande der Gesellschaft gelandet. Es waren erschreckend viele alleinerziehende Mütter darunter, die Linda immer besonders leidtaten. Auf ihre Initiative hin gab es eine kleine Kleiderkammer, die immer wieder aus ihrem Kleiderschrank bestückt wurde, und wenn sie den Eindruck hatte, jemand könne etwas daraus gebrauchen, nahm sie diejenige behutsam zur Seite und ließ sie auswählen. Diese Tage im Tafelladen gaben ihr so ungleich mehr, als sie mit ihrer Arbeitskraft einbrachte. Sie fühlte sich am Abend zwar immer erschöpft, doch das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, bescherte ihr eine innerliche Wärme, die sie nicht mehr missen wollte.
Linda ging mit einer Kiste Obst in den Verkaufsraum, um es dort in die verschiedenen Regale einzuordnen. An der Kasse hatte sich bereits wieder eine lange Schlange gebildet; sie hatte das Gefühl, dass immer mehr Menschen zu Kunden des Tafelladens wurden. Jeder, der einen Berechtigungsschein vorweisen konnte, durfte hier einkaufen. Wer einen Hartz-IV-Bescheid oder Bescheide über den Bezug von Sozialhilfe oder ähnlichen staatlichen Unterstützungen vorlegen konnte, wurde im System erfasst und bekam einen Berechtigungsschein ausgestellt, den er immer an der Kasse vorzeigen musste. So wurde Missbrauch von vornherein ausgeschlossen. Wenn sie an der Kasse stand, konnte es aber auch schon mal vorkommen, dass sie einen offensichtlich Bedürftigen, der keinen Berechtigungsschein und auch keinen sonstigen Nachweis hatte, nicht weggeschickte.
Linda seufzte. Als sie sich umdrehte, blickte sie direkt in das Gesicht einer Frau, die sie anstarrte. Erschrocken wich sie zurück. Die Narbe über dem linken Jochbein war deutlich zu sehen. Ein hellroter Streifen, gezackt und wulstig aufgeworfen. Katrin kannte dieses Gesicht, diese Frau. Sie hatte nicht damit gerechnet, sie noch einmal in ihrem Leben zu sehen. »Evelyn«, entfuhr es ihr, und ihre Beine fühlten sich auf einmal ganz wacklig an.
Evelyn lächelte schief. »Entschuldige, ich war mir nicht sicher, ob du es bist.«
Sie betrachteten sich schweigend. Linda sah ungepflegte, von grauen Strähnen durchzogene blonde Haare, die bis auf die Schultern hingen. Obwohl Evelyn gleich alt war, merkte man ihrem Gesicht an, dass es nicht von regelmäßiger Kosmetikbehandlung und guter Ernährung jung gehalten worden war. Sie sah gut und gerne zehn Jahre älter aus. Das T-Shirt, das sie trug, hätte eine Wäsche vertragen können, und die Jeans war sicher nicht deshalb zerrissen, weil sie ein Designerstück war.
»Gut siehst du aus, es scheint dir besser ergangen zu sein als mir in den letzten Jahren.«
Linda schluckte. Was sollte sie darauf sagen? »Lebst du hier in der Stadt?«
Evelyn schien kurz zu überlegen. »Mehr oder weniger, ich habe immer noch Probleme damit, sesshaft zu werden.«
Linda wollte weiterarbeiten, wusste aber, dass sie Evelyn nicht so einfach wegschicken konnte. »Kann ich dir irgendwie helfen?« Sie biss sich auf die Lippen. Ihr verdammtes Helfersyndrom, es hatte sie schon in Teufels Küche geführt.
»Wir könnten mal zusammen was trinken gehen«, schlug Evelyn vor.
Das hatte Linda befürchtet. Doch einen Rückzieher konnte sie nicht machen, das war sie der alten Freundin schuldig. »Okay, gute Idee, wann hast du Zeit?«
»Wie wärs heute, wenn du hier fertig bist?«
Sie will mich festnageln! »Gut, geht klar. Ich komme hier um sechs raus, wir können uns gegenüber in dem kleinen Bistro treffen.«
Evelyn lächelte. Irgendwie zufrieden. Doch ihre Augen blieben kalt. »Einverstanden, ich warte dort auf dich.« Sie drehte sich um und verließ den Laden, ohne etwas mitgenommen zu haben.
Warum ist sie hierhergekommen, wenn sie doch nichts gekauft hat?
Den Rest des Tages konnte Linda ihre Gedanken kaum bei der Arbeit behalten. Immer wieder gingen sie dreiundzwanzig Jahre zurück, und die Scham trieb ihr heiße Wellen ins Gesicht.
Sie sieht gut aus. Immer noch gut. Doch sie will sich nicht erinnern. Ich gebe ihr die Zeit, die sie braucht. Ich bin nicht nachtragend. Es kann für uns einen Neuanfang geben. Sie mag mich immer noch. Auch wenn sie
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