Verstohlene Kuesse
schickte die Mutter meines Vaters gelegentlich ein bisschen Geld.«
»Das war aber sehr nett von ihr.«
»Niemand, der sie kennt«, sagte er sehr ruhig, »würde je den Riesenfehler begehen und Lady Exbridge nett nennen. Sie hat das Geld geschickt, weil sie es als ihre Pflicht ansah. Bereits unsere Existenz sieht sie als große Schande an, aber sie ist sich dessen, was sie Verantwortung gegenüber der Familie nennt, extrem bewusst.«
»Mr. Stokes, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Da gibt es nichts zu sagen.« Er winkte müde ab. »Meine Mutter starb an einer Lungenentzündung, als ich siebzehn war. Ich glaube nicht, dass sie je die Hoffnung aufgegeben hat, dass mein Vater sich eines Tages seiner Liebe zu ihr bewusst und obendrein seinen unehelichen Sohn anerkennen würde.«
Die Leichtigkeit, mit der er sprach, verdeckte nicht zur Gänze seinen Zorn. Seine arme Mutter war nicht die einzige gewesen, die gehofft hatte, dass der Schwerenöter, der ihn gezeugt hatte, eines Tages doch noch Interesse an seinem illegitimen Nachkommen zeigen würde, stellte Emma fest.
Irgendwo, irgendwie, so wurde Emma klar, hatte Edison einen Weg gefunden, den Zorn zu kühlen, der in seinem Inneren loderte. Doch schwinden würde dieser Zorn, auch wenn er ihn beherrschte, sicher nie.
»Ihr Vater, Sir.« Sie machte eine Pause, da sie nicht wusste, ob ihre Frage vielleicht zu verwegen war. »Darf ich fragen, ob Sie ihm jemals begegnet sind ?«
Edison lächelte wie ein großer, grauer Wolf. »Nachdem seine Frau und sein Erbe im Kindbett gestorben waren, hat er mich ein, zweimal besucht. Allerdings kamen wir uns nie besonders nah. Er starb, als ich neunzehn und gerade außer Landes war.«
»Wie traurig.«
»Ich glaube, Miss Greyson, jetzt habe ich genug zu diesem Thema gesagt. Die Vergangenheit ist nicht so wichtig. Ich habe sie lediglich erwähnt, um Ihnen deutlich zu machen, dass ich Ihre Notlage durchaus verstehen kann. Heute Abend jedoch geht es einzig und allein darum, einander zu versprechen, dass die Geheimnisse des jeweils anderen sicher sind. Ich bin sicher, dass ich mich drauf verlassen kann, dass Sie Ihren Teil der Übereinkunft einhalten.«
»Darauf gebe ich Ihnen mein Wort, Sir. Und falls Sie mich jetzt bitte entschuldigen, muss ich langsam wirklich ins Haus zurück. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, kann ich es mir nicht leisten, mit Ihnen oder irgendeinem anderen Gentleman allein hier draußen im Garten gesehen zu werden.«
»Ja, natürlich. Das Problem des guten Rufs.«
Emma stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Es ist wirklich lästig, wenn man ständig auf seinen Ruf bedacht sein muss, aber in einem Metier wie dem meinen ist er eine unerlässliche Voraussetzung.«
Gerade, als sie gehen wollte, legte er sanft, aber entschieden seine Hand auf ihren Arm. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, habe ich noch eine letzte Frage an Sie.«
Sie blickte zu ihm auf. »Was für eine Frage, Sir?«
»Was werden Sie tun, falls sich Chilton Crane daran erinnert, wer Sie sind ?«
Sie erschauderte. »Ich glaube nicht, dass das passiert. Während meiner Zeit in Ralston Manor hatte ich eine dunkle Perücke und keine Brille.«
»Aber wenn er sich an Ihr Gesicht erinnert?«
Sie richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. »Dann wird mir schon etwas einfallen. Bisher habe ich noch immer für alles eine Lösung gefunden, Sir.«
Zum ersten Mal, so dachte sie, sah er sie mit einem fröhlichen und vor allem echten Lächeln an.
»Das kann ich mir sehr gut vorstellen«, erklärte er. »Sie erscheinen mir wie eine durchaus einfallsreiche Frau. Und nun laufen Sie los. Ihre Geheimnisse werden bei mir sicher sein.«
»Und Ihre Geheimnisse bei mir. Gute Nacht, Mr. Stokes. Und viel Glück bei der Suche nach dem, was Ihren Freunden gestohlen worden ist.«
»Danke, Miss Greyson«, kam seine unerwartet förmliche Erwiderung. »Und viel Glück bei Ihren Versuchen, die verlorenen Investitionen wieder hereinzubekommen.«
Sie betrachtete sein im Dunkeln liegendes Gesicht und kam zu dem Schluss, dass Mr. Stokes ein eigenartiger und vielleicht unter bestimmten Umständen auch gefährlicher Zeitgenosse war. Aber auf sein Wort war sicherlich Verlass. Das sagte ihr Gefühl.
Sie wünschte einzig, auch auf ihr Gefühl wäre wie früher völliger Verlass.
4. Kapitel
»Himmel, Emma, wo ist nur mein Tonikum? Ich habe heute Morgen wirklich widerliche Kopfschmerzen.« Letitia, Lady Mayfield, richtete sich in ihren Kissen auf und blickte
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