Verstohlene Kuesse
angeraten wäre, fände sie so viel wie möglich über ihn heraus. Letty war immer eine hervorragende Informationsquelle, sobald es um die Reichen und Mächtigen des Landes ging.
Emma räusperte sich. »Gestern Abend habe ich auf der Treppe noch kurz mit Mr. Stokes geplaudert. Ein wirklich interessanter Gentleman.«
»Haha. Geld hat es nun mal so an sich, dass es einen Mann interessant erscheinen lässt«, stellte Letty beinahe genüsslich fest. »Und Stokes hat genug, um nicht nur interessant, sondern rundweg faszinierend zu sein.«
Emma tastete sich vorsichtig weiter. »Ich nehme an, er hat es durch Spekulationen erwirtschaftet.«
»Aber sicher doch, wie sonst? Als Junge war er arm wie eine Kirchenmaus. Wissen Sie denn nicht, dass er ein sogenannter Bastard ist? Vater war der Exbridge-Erbe. Hat irgendeine törichte kleine Gouvernante verführt.«
»Ich verstehe.«
»Lady Exbridge hat ihrem Enkel natürlich nie verziehen.«
»Es war ja wohl kaum Mr. Stokes' Fehler, dass er unehelich auf die Welt gekommen ist.«
Letty verzog das Gesicht. »Ich bezweifle, dass Sie Victoria jemals davon überzeugen könnten, dass das so ist. Jedesmal, wenn sie ihn sieht, muss sie der Tatsache ins Auge sehen, dass ihr Sohn Wesley keinen rechtmäßigen Erben hatte, als er sich bei einem Reitunfall das Genick gebrochen hat. Wissen Sie, das nagt an ihr.«
»Sie meinen, dass sie den Zorn auf ihren Sohn einfach auf den Enkel übertragen hat?«
»Ich nehme an, dass man das so sagen kann. Nicht nur, dass Wesley das Zeitliche gesegnet hat, ehe er der Pflicht seinem Titel gegenüber Genüge tun konnte, hat er es darüber hinaus auch noch geschafft und vor seinem Tod das gesamte Vermögen der Familie am Kartentisch verzockt.«
»Klingt, als ob dieser Wesley zumindest die Tugend der Konsequenz besessen hat.«
»Das stimmt. Er hat der Familie in allen nur denkbaren Bereichen Schande gemacht. Auf alle Fälle kehrte ungefähr zur Zeit seines Todes der junge Stokes mit einem Vermögen aus dem Ausland zurück. Er hat die Gläubiger der Exbridges ausbezahlt und Victoria auf diese Weise vor dem Bankrott bewahrt. Was sie ihm natürlich ebenfalls nicht verzeihen kann.«
Emma zog die Brauen hoch. »Ich wette, dass sie das Geld trotzdem genommen hat.«
»Natürlich hat sie das. Man kann Victoria vieles vorwerfen, aber Dummheit gehört ganz sicher nicht dazu. Tja, in den letzten Jahren habe ich sie nicht mehr allzu häufig gesehen. Wir waren niemals enge Freundinnen, aber man traf sich eben immer mal wieder bei irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen. Nach Wesleys Tod jedoch hat sie sich vollkommen in ihr Haus zurückgezogen. Sie nimmt keine Einladungen mehr an. Ich glaube, hin und wieder geht sie ins Theater, aber das dürfte auch schon alles sein.«
»Offensichtlich ist ihr Enkel ein geselligerer Mensch.«
»Eigentlich nicht.« Letty setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ich kenne in ganz London keine Gastgeberin, die nicht einen Mord begehen würde, nur, damit er eine ihrer Soireen oder einen ihrer Bälle besucht. Aber im Allgemeinen hält er sich von derartigen Festen fern. Seltsam, dass er überhaupt hier zu Wares Landparty erschienen ist.«
»Ich nehme an, dass er sich in London einfach gelangweilt hat. Das ist für Gentlemen wie ihn ein häufiges Problem. Sie sind beständig auf der Suche nach neuem Amüsement.«
»Stokes nicht.« Letty bedachte sie mit einem wissenden Blick. »Es kann nur einen Grund geben, weshalb er eine Einladung wie diese angenommen hat.«
Emma hielt den Atem an. War es möglich, dass Letty den wahren Grund für Stokes Erscheinen auf der Burg erraten hatte?
»Und der wäre?«, fragte sie.
»Ganz offensichtlich ist er auf der Suche nach einer geeigneten Ehefrau.«
Emma starrte sie mit großen Augen an. »Einer Ehefrau ?«
Letty schnaubte verächtlich auf. »Allerdings ist offensichtlich, dass der Mann von diesen Dingen keine große Ahnung hat. Hier wird er wohl kaum eine passende junge Frau aus guter Familie vorfinden. Basil Ware veranstaltet diese Landparty nur aus dem Grund, dass man sich amüsieren soll.«
»Das stimmt. Die einzigen alleinstehenden Damen, die er eingeladen hat, sind wohlhabende Witwen wie Lady Ames. Nicht gerade die Art Frau, die einen Mann auf der Suche nach einer jungfräulichen Braut mit tadellosem Ruf ansprechen dürfte, denke ich.« Emma konnte unmöglich erklären, dass sie aus sicherer Quelle wusste, dass Edison zumindest gerade jetzt keineswegs auf Brautschau war.
Natürlich
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