Verstohlene Kuesse
Schwester gut. Daphne stand eindeutig im Begriff, etwas Unüberlegtes zu tun.
Meine liebste Emma:
Dein letzter Brief sagt mir, dass Du bald das Geld, das wir brauchen, haben wirst. Ich bete, dass das stimmt, denn ich schwöre Dir, ich halte es nicht mehr lange in Mrs. Osgoods Schule für junge Damen aus. Ich muss Dir sagen, dass Mrs. Osgood mit jedem Tag wunderlicher wird. Du wirst sicher nicht glauben, was letzte Nacht geschehen ist. Ich konnte nicht schlafen, und so ging ich hinunter, um mir ein Buch zu holen (Mrs. Yorks jüngster Horrorroman kam gestern, und wir haben uns gegenseitig laut Kapitel daraus vorgelesen).
Als ich durch den Flur in Richtung der Bibliothek ging, merkte ich, dass die Tür geschlossen war und dass ein schmaler Lichtstreifen unter dem Rahmen auf den Flurboden fiel. Also habe ich mein Ohr gegen das Holz gelegt und höchst eigenartige Geräusche gehört. Es klang, als wühlten irgendwelche wilden Tiere zwischen den Büchern herum.
Schreckliches Schnaufen und Stöhnen drang durch die Tür. Und dann wurde plötzlich ein entsetzliches Kreischen laut. Ich fürchtete, Mrs. Osgood würde vielleicht umgebracht, und so nahm ich all meinen Mut zusammen und öffnete die Tür.
Das, was ich dann sah, war noch erstaunlicher als das Feuerwerk, das wir zusammen vor zwei Jahren in den Gärten von Vauxhall gesehen haben.
Mr. Blankenship, ein respektabler Witwer, der in der Nähe der Schule eine Farm besitzt, lag auf dem Sofa. Unter ihm lag Mrs. Osgood. Kannst Du Dir das vorstellen? Seine Hosen waren bis zu seinen Knöcheln heruntergerutscht und sein riesiger, blanker Hintern ragte in die Luft, während Mrs. Osgoods ebenfalls nackte Beine ihn links und rechts umklammerten. Glücklicherweise hat keiner der beiden mich bemerkt. Du kannst sicher sein, dass ich die Tür in großer Eile wieder schloss und zurück in mein Zimmer rannte. Ich muss Dir sagen, liebe Schwester, ich vermute, das, was ich gesehen habe, war das, was allgemein als Liebe bezeichnet wird. Falls ja, so fürchte ich, dass all die reizenden Gedichte und Romane, die wir bisher darüber gelesen haben, selbst Byrons aufregende Geschichten, uns vollkommen in die Irre geführt haben. Es war, so versichere ich Dir, der lächerlichste Anblick, den ich je ...
Emma faltete den Brief wieder zusammen und blickte durch das Fenster in den auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegenden Park. In Edisons Armen hatte sie sich nicht im geringsten lächerlich gefühlt. Die Erinnerung an die kurzen Augenblicke geteilter Leidenschaft würden sie sicher bis an ihr Lebensende wärmen, dachte sie.
Ein Klopfen an ihrer Zimmertür schreckte sie aus ihren Träumen auf.
»Herein.«
Die Tür ging auf und Bess, ihre Zofe, reichte ihr mit einem höflichen Knicks ein Stück Papier. »Ich habe eine Nachricht für Sie, Ma'am. Sie wurde eben von einem Jungen an der Küchentür abgegeben.«
Aufgeregt nahm Emma Bess den Zettel ab. Mit etwas Glück wäre es eine Nachricht von Edison. Vielleicht hatte er bei seinen Nachforschungen Fortschritte erzielt.
»Danke, Bess.«
Sie öffnete das Blatt und las die kurze, wenig elegant geschriebene Botschaft eilig durch.
Miss Greyson:
Bitte kommen Sie in den Park. Ich muss mit Ihnen sprechen. Sie sind in großer Gefahr.
Ihr
Swan
»Gütiger Himmel.« Emma blickte auf. »Ich werde einen kurzen Spaziergang im Park machen. Falls Mr. Stokes kommt, Bess, dann bitte ihn, freundlicherweise zu warten, bis ich wieder zurückkomme.«
»Sehr wohl, Ma'am.«
Emma hastete an ihr vorbei durch die Tür, flitzte die Treppe hinunter, riss ihren Hut vom Haken, stürzte aus dem Haus und die Stufen bis zur Straße hinab, schoss zwischen zwei schwankenden Heuwagen hindurch und betrat heftig atmend den Park. Die Blätter der Bäume tanzten in der milden Luft.
Als ihr der Gedanke kam, dass sie gar nicht wusste, wo sich Swan verborgen hielt, blieb sie plötzlich stehen. Sie nahm an, dass er irgendwo zwischen den dichten Büschen stand. Höchstwahrscheinlich hatte er gesehen, dass sie aus dem Haus und über die Straße gerannt war.
»Miss Greyson.«
Beim Klang der tiefen, rauen Stimme fuhr sie wie der Blitz herum.
»Swan.«
Sie runzelte die Stirn, als sie ihn im Schatten eines dicht belaubten Baumes stehen sah. Er machte eine wirklich jämmerliche Figur. Statt Mirandas prachtvoller blauer Livree trug er ein zerschlissenes Hemd, einen durchlöcherten Mantel und eine zerbeulte Hose. Über seiner Schulter hing ein kleiner
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