Verstoßen: Thriller (German Edition)
Susan schaute von der Schusswaffe zu ihrer Mutter, die mit dem Rücken zu ihr an der Spüle stand und Äpfel schälte, als ob nichts wäre. Im Kühlschrank stand Teig, der langsam fest wurde.
Vielleicht, überlegte Susan, versuchte Jeanny jetzt, an einem Tag zwanzig Jahre wiedergutzumachen, und der Apfelkuchen, auf den sie der angespannten Lage zum Trotz großen Wert zu legen schien, gehörte zu den besonders dringend nachzuholenden Mutter-Kind-Angelegenheiten.
»Wart ihr gut befreundet?«, fragte Jeanny.
»Ja, schon. Ich kannte ihn noch nicht so lange, aber Sven war jemand, mit dem man sich leicht anfreundete. Sehr hilfsbereit und nett. Tierarzt von Beruf.« Sie hörte sich selbst diese Sätze sagen, doch merkwürdigerweise empfand sie wenig dabei. Dass Sven nicht mehr da war, kam ihr geradezu unwirklich vor. Geweint hatte sie nicht. Vielleicht später. Hier, fernab der bewohnten Welt in den walisischen Bergen, erschien ihr das Leben in den Niederlanden sowieso unendlich weit entfernt.
Auch Sil.
»Ist er überfallen worden oder so?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Susan. »Das hat Sil nicht gesagt.«
»I don’t get it. Was soll der Kerl denn hier zu suchen haben? Auf meinem Grundstück? Ich kenne deinen Nachbarn nicht mal.«
Susan zuckte mit den Schultern. Am liebsten hätte sie ihre Mutter in alles eingeweiht, aber sie hielt sich zurück. Erst musste sie mit Sil sprechen, zumal sie nicht sicher war, ob sie wirklich gut daran täte, ihre Mutter ins Vertrauen zu ziehen. Allerdings fühlte sie sich auch nicht wohl dabei, dass sie Verstecken spielte, während Jeanny sich umgekehrt ihrer Tochter durchaus geöffnet hatte, in all ihrer Verletzlichkeit.
»Eigentlich glaube ich, dass dein Freund sich irrt«, fuhr Jeanny fort. »Aber gruselig fand ich den Typen auch. Bloß gut, dass Howard gerade vorbeikam. Darüber hab ich mich noch nie so gefreut wie vorhin.«
»Howard passt gut auf dich auf«, sagte Susan, um dem Gespräch eine Wendung zu geben.
»Howard passt auf alle unverheirateten Frauen gut auf. Ich habe auch Skip von ihm bekommen. Eine Frau, die allein lebt, braucht einen Wachhund, meinte er. Aber in Wirklichkeit war es ein Vorwand, um manchmal vorbeikommen zu können. Was er seitdem fast jede Woche tut.«
»Fällt er dir auf die Nerven?«
»O nein, gar nicht«, sagte Jeanny, während sie die Apfelstücke mit eingeweichten Rosinen mischte. »Die Leute hier sind ziemlich verschlossen. Man merkt, dass sie sehr an ihrer Familie und am Freundeskreis hängen.« Sie sah kurz auf. »Sie sind nett, das schon, sie sagen Hallo und fragen, wie’s einem geht, aber darüber hinaus geht es kaum. Sie mauern sich mit ihrer Freundlichkeit ein, pflege ich zu sagen. Howard ist da eine erfreuliche Ausnahme. Und na ja, im Grunde war es mir ganz recht so. Irgendwann fangen die Leute ja doch an, darüber nachzudenken, was für ein Leben man wohl früher hatte.«
»Und Howard?«
Sie lächelte. »Howard ist ein guter Freund. Er hilft mir bei ein paar technischen Dingen, und ich helfe ihm, wenn er Welpen oder kleinen Lämmern die Flasche geben muss, weil die
Mutter nicht genug Milch hat oder gestorben ist. Howard ist bei so was viel zu ungeduldig.«
»Verstehe. Aber hat er denn nicht wissen wollen, woher du gekommen bist und so weiter? Was hast du ihm erzählt?«
»Dass ich eine kinderlose Witwe bin und schon immer in Wales leben wollte. Hier fühle ich mich zu Hause, und hier möchte ich alt werden, habe ich gesagt. Er hat nie nachgebohrt. Ich bin auch nicht die einzige Fremde, die sich hier niedergelassen hat.«
Jeanny nahm die Teigschüssel aus dem Kühlschrank. Wischte die Anrichte sauber, streute Mehl aus, legte den Teig darauf und begann ihn mit der Küchenrolle auszuwalzen.
Plötzlich kam Susan eine Frage in den Sinn, auf die sie immer noch keine Antwort hatte: »Woher weiß Walter eigentlich, dass du hier wohnst?«
Jeanny wandte sich zu ihrer Tochter um. »Er ist meine Verbindung zu den Niederlanden.« Ein Lächeln trat auf ihr Gesicht. »Walter erzählt mir immer, wie es euch so geht.«
»Hast du die ganze Zeit über Kontakt zu ihm gehalten?«
»Nein, nicht von Anfang an. Aber mir drängten sich immer mehr Fragen auf. Ob ihr schon von zu Hause ausgezogen wart. Wie ihr inzwischen wohl lebtet, deine Schwester und du. Ob Sabine und Michael tatsächlich geheiratet hatten und ob du dein Studium beendet hattest. Ob ich vielleicht schon … Oma geworden war. Es verging kein Tag, an dem ich nicht daran gedacht hätte.
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