Verstoßen: Thriller (German Edition)
Irgendwann habe ich Walter aufgespürt und ihn angerufen.«
»Warum Walter? Warum hast du nicht einfach Papa angerufen ?«
Jeanny schüttelte den Kopf. »Da war zu viel kaputt. Schon bevor ich wegmusste. Mit Walter bin ich immer gut ausgekommen. Ich betrachtete ihn als eine Art Bruder. Außerdem wusste er, was geschehen war und wie ich mich fühlte.«
»Bei uns hat er sich seitdem nie wieder blicken lassen.«
»Ich weiß. Das Verhältnis zwischen ihm und deinem Vater ist ziemlich den Bach heruntergegangen. Walter hat ihm nie verziehen. Er hat immer gesagt, dass es nie so weit gekommen wäre, wenn Geran mir mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Wenn er zugänglicher gewesen wäre und mir mehr Freiheit gelassen hätte.… Aber na ja, das ist natürlich Unsinn. Es war einfach meine eigene Schuld.«
»Hast du viel Kontakt zu Walter?«
»Nein. Alle paar Monate rufe ich ihn mal an, und wenn nicht, dann meldet er sich. Er hat für mich ein paar Dinge über euch recherchiert.«
»Was hat er denn da erzählt?«
»Dass Sabine mit Michael in Illinois lebt. In einem kleinen Dorf, fünfhundert Kilometer von Springfield entfernt. Da haben sie einen Bauernhof und bauen Getreide an. Ein großes Haus, mit Angestellten. Und du bist Fotografin geworden. Eine gute Fotografin.« Sie lächelte. »Warte mal, ich hab ein paar Fotos von dir.«
Jeanny wusch sich die Hände, verließ den Raum und kam im nächsten Augenblick mit einem Schuhkarton voller Zeitungsschnipsel zurück. Sie deponierte den Inhalt in kleinen Stapeln auf dem Küchentisch. Abgegriffene Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften. Susan kannte jedes einzelne Bild. Wusste noch genau, wo sie welches gemacht hatte. Erinnerte sich an die Gerüche, den Lichteinfall, die Menschen, denen sie jeweils vor Ort begegnet war. Hier lagen Ausschnitte aus vielen Jahren. Die Arbeit vieler Jahre.
Während sie über die Schnipsel gebeugt dasaß, hörte sie plötzlich Lärm von draußen. Es war das Dröhnen eines Motorrads, dem sogleich Gekläffe von Skipper folgte.
Susan stand auf und schaute durch die Gardinen.
Sil.
47
Eine Frau mittleren Alters machte die Tür auf und musterte ihn aufmerksam. Susan stand hinter ihr. Sie trug Jeans und T-Shirt und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Maiers Blick wanderte von der Frau zu Susan und wieder zurück. Jeanny war schmächtiger als Susan und gut zehn Zentimeter kleiner. Aber die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen.
»Komm schnell rein«, sagte Jeanny. Sie schloss die Tür hinter ihm ab und gab ihm die Hand. Eine sehnige, knochige Hand.
»Jane Morris. Äh … Jeanny«, korrigierte sie sich. »Susans Mutter.«
»Sil Maier.«
Er wandte sich Susan zu. Jeanny drängte sich an den beiden vorbei und verschwand im nächsten Zimmer.
Sil legte die Hände an Susans Wangen. »Ich hab dich vermisst. «
Sie schwieg, ließ auch seine Liebkosung unbeantwortet. Er strich mit den Daumen über ihre Wangen. »Ist der Kerl noch mal aufgetaucht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich war vor einer Stunde schon mal hier.« Er schüttelte den Rucksack ab. »Ich habe das Motorrad ein Stück weiter oben abgestellt und bin zu Fuß zurückgelaufen, um zu sehen, ob ich irgendetwas entdecke. Aber mir ist nichts weiter aufgefallen. Entweder der Kerl weiß sich gut zu verstecken, oder er ist tatsächlich nicht mehr da.«
»Wo steht das Motorrad jetzt?«
»Im Schuppen.«
»Was will der Mann hier, Sil?« Sie schluckte. »Wer ist das?«
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist er im Auftrag hier. Der wird dafür bezahlt.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht, aber ich nehme es an. Es sieht alles danach aus.«
»Ein Auftragsmörder«, folgerte sie.
»Offensichtlich.«
Er konnte nicht richtig einschätzen, was sie dachte. Was genau in ihr vorging. Von nebenan kam ein gedämpftes Husten.
»Was hast du deiner Mutter erzählt?«, fragte er schließlich, weil er wusste, dass sie nicht endlos Zeit hätten, Dinge unter vier Augen zu besprechen. Wenn sie gleich in den anderen Raum hinübergingen, wäre es damit vorbei.
»Wenig. Ich habe gesagt, du hättest Svens Mörder weglaufen sehen und dass es vermutlich derselbe war, der hier nach einem Gästezimmer gefragt hat. Sonst nichts. Das wäre mir … unvernünftig erschienen. Vorerst.«
»Und umgekehrt, wie sieht ihre Geschichte aus?« Mit einem Nicken deutete er in die Richtung, wo Susans Mutter gerade verschwunden war.
Susan versuchte, Jeannys Geschichte kurz zusammenzufassen. Die
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