Verstoßen: Thriller (German Edition)
über ihr Haar. Merkte, wie er immer träger, immer schläfriger wurde.
Augenblicke des Glücks sind neurologische Momentaufnahmen.
Dies war ein solcher Moment.
48
Miguel lag regungslos zwischen zwei klotzigen Steinen. Er hatte sich ein Netz, in das Unkraut und Moos hineingeflochten waren, über den Kopf gezogen. Von Weitem und selbst aus der Nähe war er nicht zu erkennen. Schon vor Jahren hatte er gelernt, wie man das machte.
Manche Dinge vergaß man nie.
Der Beobachtungsposten von heute lag keine hundert Meter von dem Haus entfernt, das sich etwa dreißig Meter unterhalb von ihm am Fuß des Hügels befand. Die Sicht war hervorragend. Durch das Zielfernrohr seiner CZ 700, das er mit Jute umwickelt hatte, um unnatürliches Glitzern zu vermeiden, konnte ihm nicht viel entgehen. Allerdings gab es ohnehin nicht viel zu sehen. Seit der ältere Mann gestern Nachmittag gegangen war, hatte sich dort unten keine Menschenseele mehr blicken lassen.
Bis eben.
Ein Motorradfahrer, der vor dem Haus innehielt und dann weiterfuhr. Etwa eine Stunde später war der Mann zurückgekehrt. Er hatte seine Maschine im Schuppen abgestellt und war ins Haus gegangen.
Miguels Gedächtnis für Gesichter war fast mysteriös gut. Woher er dies Gesicht kannte, wusste er auf Anhieb. Diesem Mann hatte er genau in die Augen gesehen, und zwar als er die Tierarztpraxis verließ.
Zu jenem Zeitpunkt hatte er wenig tun können. Bei dem dichten Verkehr hätte es vor Zeugen nur so gewimmelt. Außerdem
wusste er nicht, ob der Mann womöglich eine Schusswaffe im Schoß liegen hatte. Es wäre eine reine Kamikazeaktion gewesen, ein solches Risiko einzugehen.
Er richtete den Blick wieder auf das graue Bauernhaus im Tal. Friedlich sah es aus. Wer die beiden Frauen waren, hatte sein Chef ihm nicht erklärt. Aber anscheinend hatten sie irgendetwas mit diesem Nielsen oder einem seiner Helfer zu tun.
Was hätte dieser Kerl sonst hier zu suchen?
Nachdem sein erstes Erstaunen abgeflaut war, wurde ihm die Ironie bewusst. Dass der Typ nun hier aufgetaucht war, ersparte ihm zumindest eine mühsame Suche.
49
Allmählich konnte Maier sich vorstellen, was es bedeutete, als Bodyguard zu arbeiten. Ein ziemlicher Scheißjob. Die permanente Bedrohung, das Verantwortungsgefühl und die Vorstellung, dass die Dinge jederzeit aus dem Ruder laufen konnten. Nervenzerfetzend. Wenn sein Finanzpolster irgendwann aufgebraucht wäre, würde das sicher nicht sein neuer Job.
In der ersten in Jeannys Haus verbrachten Nacht war es zu keinerlei Zwischenfällen gekommen. In der zweiten ebenso wenig. Gestern hatten sie die letzten Dosen Heinz Baked Beans aufgewärmt, die sie in Jeannys ohnehin nicht gerade prall gefüllten Vorratsschränken gefunden hatten.
Sie mussten dringend etwas einkaufen.
Im Zentrum von Brecon standen die grauen und pastellfarbenen Fassaden so nah beieinander, und die Gassen waren so eng, dass Sil Maier ganz klaustrophobisch zumute wurde. Die Trottoirs schienen für Leute wie Popeyes Schwester Olive Oyl entworfen zu sein, und es waren derzeit offenbar mehr Leute auf den Beinen, als die Logistik der Gemeinde bewältigen konnte. Wenn er sich umsah, fing er allerlei Gesprächsfetzen auf. Touristen, vor allem Engländer. Fischer. Einheimische.
Keine Spur von einem Typen mit miserabel zusammengeflickter Visage.
»Komm«, sagte Jeanny und öffnete die schwere Eingangstür zum Pub.
Drinnen war es düster und lärmig. Jeanny wollte sich irgendwo in der Mitte an einen runden Tisch setzen, aber Maier
fasste sie am Ellbogen und dirigierte sie in den hinteren Teil des Raums. Er setzte sich neben ein paar andere Gäste auf eine Holzbank. Von hier aus konnte er einerseits den Kneipenraum überblicken, andererseits hatte er durch die Fenster eine passable Sicht nach draußen. Jeanny und Susan nahmen ihm gegenüber Platz.
Maier sah sich um. An der Bar saßen zwei junge Typen, die, ihrem Sprachgebrauch und -volumen nach zu urteilen, schon ziemlich voll waren. Viele Leute mit Einkaufstaschen.
Er warf einen Blick auf seine Seiko. Halb drei.
Dann schaute er wieder nach draußen. Er saß da wie auf heißen Kohlen. Es waren zu viele Leute unterwegs.
Während Jeanny sich zwischen angetrunkenen Männern einen Weg zur Bar bahnte, um Kaffee zu holen, sagte Susan plötzlich: »Du machst dir zu viele Sorgen. Vielleicht war es gar nicht derselbe Typ. Das wäre doch sonst ein unglaublicher Zufall.«
Er hob eine Augenbraue.
»Wir können nicht wochenlang so weitermachen«,
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