Verstoßen: Thriller (German Edition)
machen, aber das Material ließ sich nicht richtig biegen.
Roger hustete. Murmelte. Bewegte sich.
»Breites Klebeband«, schrie Susan ihrer Mutter hinterher, »oder ein Stück Schnur, irgendwas! Schnell!«
Sie hörte Jeanny in der Küche herumfuhrwerken. Schubladen auf- und wieder zuziehen, alles Mögliche fiel auf den Boden.
Roger kam zu sich. Es ging beängstigend schnell.
Das Stungun. Fieberhaft blickte sie um sich.
Wo war das Ding abgeblieben?
Sie kniete sich hin, stützte die Hände auf den Boden. Schaute unters Bett. Nichts. Legte die Wange auf den Boden, suchend. Unter den Schrank war das Ding gerutscht. Sie kroch hin und legte sich flach auf den Bauch. Sie konnte das Kunststoffgehäuse der Waffe mit den Fingerspitzen berühren. Drehte den Kopf zur Seite, machte sich so lang wie möglich und tastete danach.
»Das wird dir noch leid tun, Kleine«, hörte sie Roger zwischen den Zähnen hervorstoßen.
Eine Hand an ihrem Fußknöchel. Reflexartig trat sie nach hinten aus, trat aber ins Leere. Im nächsten Augenblick wurde sie von dem Schrank weggezogen. Es ging so schnell, dass sie es kaum mitbekam. Als sie den Kopf zu Roger drehte, sah sie einen glänzenden Lederschuh auf ihr Gesicht zukommen. Sie kniff die Augen zu. Spannte alle Muskeln an.
Ein dumpfes Knacken.
Mehr nicht.
Mit einem Knall fiel ihr Bein auf den Boden zurück.
Langsam wurde ihr bewusst, dass sie keinerlei Schmerz gespürt hatte. Sie öffnete die Augen.
Roger lag in einer anormalen Haltung auf dem Boden, wie eine Marionette mit gekappten Fäden. Aus seinem Ohr lief ein dünnes Rinnsal Blut.
Susan blickte auf.
Mit dem Rücken zur Wand stand Jeanny vor ihr, die eine Hand zitternd auf der Stirn.
In der anderen Hand hielt sie eine der gusseisernen Pfannen, die als Wanddekoration in der Küche dienten.
54
»Aua.«
Susan zog den Verband von Maiers Wunde. Das letzte Stück ließ sich nicht ablösen, es klebte fest am geronnenen Blut.
»Soll ich ihn nass machen?« Sie wollte den Wasserhahn aufdrehen. »Dann wird er weich.«
»Ich kann auch drumherumschneiden. Der Schorf wird schon irgendwann abfallen.«
Susan sah zu, wie Maier dem Verband energisch mit der Schere zu Leibe rückte. Ein hart gewordenes, dunkelbraunes Stück mit ausgefransten Enden blieb in der Mitte hängen. Drumherum war die Wunde so gut wie ausgeheilt.
Die Wunde war die letzte greifbare Erinnerung an die letzte Nacht in Wales, die mittlerweile anderthalb Wochen zurücklag.
Als Jeanny und Susan Rogers Leiche die Treppe hinuntermanövriert hatten – um es weniger persönlich wirken zu lassen, hatten sie über seinen Kopf eine Mülltüte gestülpt –, hatte plötzlich Sil unten im Flur gestanden.
Er hatte todmüde ausgesehen. Jacke und Hose hingen ihm in durchweichten Fetzen am Leib. Ein Geruch wie von abgestandenem, fauligem Wasser. Dreckige und aufgeschürfte Hände. Graues Gesicht, als hätte er sich in Asche gewälzt. Ein gehetzter Blick in den Augen.
Ohne Fragen zu stellen, überhaupt ohne weitere Worte, hatte er Rogers Beine von Jeanny übernommen. Erst da bemerkte Susan, dass er verwundet war, aber Sil tat es ab und wollte von
medizinischer Versorgung nichts wissen. Sie begruben Roger im Wald. Danach desinfizierte und verband Sil seine Wunde selbst. Am nächsten Morgen waren sie in die Niederlande aufgebrochen.
Jeanny schlief nun auf dem Einpersonenbett in Susans Arbeitszimmer, das sie in aller Eile gekauft hatten, Reno hatte das Wohnzimmersofa mit Beschlag belegt. Die Stadtwohnung war eigentlich auf eine Person zugeschnitten, aber die räumliche Beengtheit und der Mangel an Privatsphäre machten Susan nichts aus.
Vielmehr war es Sils Verhalten, das ihr Sorgen bereitete.
Er hatte Jeanny in den letzten Tagen Tausende von Fragen gestellt. Über Roger, Walter, Geran und Carl Ecke.
Über das, was er selbst in jener letzten Nacht in Wales erlebt hatte, hatte er erstaunlich wenig erzählt. »Hundebiss«, so erklärte er die klaffende Wunde. »Ein Rottweiler, richtig großes Viech.«
Sie hätte ihm gern geglaubt, wenn sein Blick, sein ganzes Benehmen und seine Haltung diese Worte nicht so deutlich Lügen gestraft hätten.
»Musst du heute Abend wieder irgendwohin ? «, fragte sie, als er in seine Jacke schlüpfte.
»Ich hab jemandem versprochen, sein Computersystem auszumisten. Dem Typen, der mir den Flug nach Wales besorgt hat. Kann sein, dass ich erst morgen früh wiederkomme.«
»Du fährst mitten in der Nacht zu einem Kunden?«
Er zuckte mit den
Weitere Kostenlose Bücher