Verstoßen: Thriller (German Edition)
Schultern. »Wenn ich tagsüber daran arbeite, lege ich alles still. Nachts ist da zumindest kein Personal, das mir in die Quere kommen könnte. Und ich hab meine Ruhe. Willst du nicht mit deiner Mutter in die Stadt? Gönnt euch doch ein bisschen Entspannung, macht euch einen schönen Abend.«
Sil wich ihrem Blick aus, während er sprach.
Er heckte irgendetwas aus.
Und sie sollte es nicht wissen.
55
Walter stieg in seine Schlappen, erhob sich vom Bett und zog einen Morgenmantel an. Warf einen traurigen Blick auf Valeries Betthälfte. Unberührt.
Vor einer Woche hatte sie ein paar Sachen zusammengepackt und Thomas mitgenommen. Sie bräuchte Zeit zum Nachdenken, um die Ereignisse zu verdauen – und seine Reaktion darauf. Sie hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber es lief darauf hinaus: Er hatte sie enttäuscht.
Gedankenversunken ging er die Treppe hinunter. Das Holz knarrte unter seinen Schritten. Ohne Valerie und Thomas war es so still im Haus. Still und leer. Er wollte, dass sie wiederkamen, möglichst heute noch. Das Alleinsein war nicht seine Sache.
Er trat ans Fenster seines Arbeitszimmers und zog die Gardinen auf. Zu dieser frühen Stunde gehörte der Garten ganz den Vögeln. Durch die Fensterscheiben drang eine Kakophonie von Vogelstimmen. Dünne Nebelschleier hingen über dem Rasen. In einer halben Stunde würden sie sich verzogen haben, vertrieben von der gerade aufgegangenen Sonne.
Er atmete tief durch und starrte mit leerem Blick nach draußen.
Miguel schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Er hatte nun schon zwei Wochen lang nichts mehr von ihm gehört. Alle möglichen Gedanken spukten ihm durch den Kopf: Vielleicht war der Kolumbianer zu einem neuen Chef übergelaufen, der besser zahlte, oder er war verwundet. Er konnte auch tot sein. Die Unsicherheit nagte an ihm. Er wollte wissen, was sich dort
abgespielt hatte, in Wales, weit außerhalb seines Gesichtskreises. Der Einzige, der es ihm hätte sagen können, Roger, war genauso unauffindbar wie Miguel.
Rogers Handy war ausgeschaltet, und bei seinem Festnetzanschluss nahm er nicht ab. Roger wohnte alleine in einem Penthouse, er hatte weder Frau noch Kinder, und auch sonst gab es niemanden, der ihn möglicherweise vermisste und den Walter hätte fragen können. Zu guter Letzt hatte er Rogers Sekretärin angerufen, die hatte ihm aber auch nur gesagt, ihr Arbeitgeber sei im Urlaub und sie erwarte ihn nächste Woche zurück.
Die Situation war alles andere als angenehm. Roger schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Miguel meldete sich nicht. Andere Leute, die ihm zu Informationen hätten verhelfen können, gab es nicht. Bis auf Jeanny oder ihre Tochter. Falls die noch lebten.
Nicht einmal das wusste er.
Nie zuvor war er so nervös gewesen. In der letzten Woche hatte er bestimmt zehn Mal seine Autoschlüssel gegriffen, entschlossen, auf der Stelle nach Wales aufzubrechen. Die Dinge selbst in Augenschein zu nehmen.
Aber er hatte sich nicht getraut. Aus Angst vor dem, worauf er möglicherweise stoßen würde.
Noch einen Tag, vielleicht zwei. Wenn er dann immer noch nichts von Roger oder Miguel gehört hätte, würde er doch noch nach Brecon fahren. Vielleicht. Er seufzte tief und fuhr sich durch das krause graue Haar.
Drehte sich um. Der Schreck, der ihm in die Glieder fuhr, war maßlos. Lähmte ihn. Von einem Augenblick auf den nächsten verweigerten ihm die Beine den Dienst. Er sank auf die Knie.
Ein fremder Mann stand in seinem Arbeitszimmer. Auf seinem Perserteppich. Kräftige Statur, millimeterkurzes Haar, finsterer, harter Adlerblick. Markante Gesichtszüge.
Ganz in Schwarz gekleidet.
Er hatte ihn nie zuvor gesehen.
»Wer sind Sie?«, fragte er, nahezu atemlos.
»Ihr schlechtes Gewissen.«
Walter wollte aufstehen, aber seine Beine waren wie gelähmt. Kurz glaubte er, er träume, er läge noch im Bett und wäre bloß im Traum in sein Arbeitszimmer spaziert. Denn sonst könnte er doch noch gehen? Er presste sich die Fingernägel in die Handballen.
Der Schmerz war echt.
Gebannt sah er zu, wie der Mann sich in den Sessel gegenüber von seinem Schreibtisch setzte. Stifte und Notizzettel hin und her schob. Seinen Kalender zur Hand nahm und durchblätterte.
»Ich wollte ein paar Dingen nachgehen«, hörte er den Mann sagen. »Ich habe da nämlich eine Theorie.«
»Das ist Hausfriedensbruch«, antwortete Walter. Er versuchte, seiner Stimme Autorität zu geben. »Ich rufe die Polizei.«
Die Lippen des Eindringlings kräuselten sich zu
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