Verstoßen: Thriller (German Edition)
dem Haus lastete. Natürlich, dachte Susan, war das Haus über Jahre hinweg von den Menschen, die darin gelebt hatten, geprägt worden. Wenn es jetzt jemand in Schuss brächte, wenn Leben hier einziehen würde, Kinder da wären oder Freunde, dann könnte es ein wunderbarer Ort werden, den man gerne aufsuchte. Ein Zuhause. Wie es eines gewesen war, vor langer Zeit, ehe ihre Mutter verschwunden war.
Aber so würde es nie mehr werden.
Das obere Stockwerk war mittlerweile leer geräumt. Die Männer nahmen noch einen Sessel und ein paar Klamotten aus dem Wohnzimmer mit. Sie versprachen, im Laufe des Tages den Rest zu holen.
Susan zog die Haustür zu. Sie war müde. Es war sehr warm, mindestens fünfundzwanzig Grad. Reno saß mit einer Dose Bier im Schatten der Veranda hinter dem Haus. Seine Springerstiefel standen vor ihm im hohen Gras, und mit seinen knöchrigen Fingern drehte er sich gerade eine Zigarette.
Susan setzte sich mit einer Flasche Cola zu ihm.
Sie wusste, dass Reno praktische Tätigkeiten aller Art immer extrem anstrengend fand. Er war ein Gefühlsmensch. Er konnte stundenlang dasitzen und vor sich hin träumen, auf seiner Klampfe zupfen, komponieren. Die Ärmel hochzukrempeln, lag ihm weniger. Umso mehr wusste sie es zu schätzen, dass er mitgekommen war. Außerdem betrachtete er das Haus mit
ganz anderen Augen. Teilte ihre Geschichte nicht. Das half ihr dabei, nicht von Gefühlen überwältigt zu werden.
»Ist ja alles nicht so wild«, sagte sie, den Blick auf den Garten gerichtet. »Heute Abend wird es schon ein ganzes Stück leerer sein.«
Reno brummte etwas vor sich hin. Ließ die Bierdose zwischen den Fingerspitzen baumeln. Die selbstgedrehte Zigarette verströmte einen schweren, süßlichen Duft. »War das hier schon immer so, San?«
»Nein, nicht immer. Man kann es sich jetzt kaum vorstellen, aber als meine Mutter noch lebte, war das Haus immer voller Leute. Der Himmel weiß, wo die alle herkamen, wo meine Eltern sie aufgabelten. Und mein Vater hatte zwei gute Freunde, die praktisch Tag und Nacht hier herumhingen.«
»Siehst du die noch gelegentlich?«
Sie nahm einen Schluck von ihrer Cola. »Nach dem Verschwinden meiner Mutter war das soziale Leben hier mehr oder weniger vorbei.«
»Hast du dich mal gefragt, was mit ihr passiert ist?«, fragte Reno vorsichtig.
Nachdenklich schaute sie auf die Rasenfläche. »Ja, oft.« Wieder musste sie an die Worte ihres Vaters denken. Dass es ihm leidtue. War das nur das wirre Gerede eines Sterbenden gewesen, der Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten konnte? Oder ein letzter Versuch der Buße? »Aber ich werde es wahrscheinlich nie erfahren«, fuhr sie fort. »Also wäre es eher masochistisch, wenn ich es trotzdem herauszufinden versuchen würde. Glaube ich.«
»Meinst du wirklich?«
Susan hatte ihn nicht gehört. Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit ab. »Vor allem im Sommer war es hier schön. Wir hatten sogar ein Schwimmbad.«
Reno sah sie an. »Echt?«
Sie deutete mit einem Nicken in Richtung des Containers. »Dahinter. Ein altes Schwimmbad mit grünen Fliesen und alten Statuen. Die sind jetzt bestimmt total überwuchert. Oder verschwunden. Jedenfalls sind sie nicht mehr zu sehen.«
Reno stand auf. »Mal schauen.«
Sie erhob sich ebenfalls und ging von der Veranda, hinter ihm her. Im Wettstreit von Unkraut und Rasen hatten die Brennnesseln die Oberhand gewonnen. Vorsichtig wich Susan ihnen aus.
Das Schwimmbad war etwa acht Meter lang und halb so breit. Viel war von ihm nicht übrig. Im Becken stand mehrere Zentimeter hoch das Regenwasser, grün vor Algen, sodass man nicht auf den Grund sehen konnte.
»Hier sind wir früher immer geschwommen«, sagte sie leise. »Im öffentlichen Schwimmbad waren wir nie.«
»Das war bestimmt lustig«, sagte Reno mit einem gutmütigen Lächeln.
»Ja, allerdings.«
»Ist das das Atelier von deinem Vater?« Er zeigte auf die grüne Scheune.
»Ja.«
»Darf ich mal schauen?«
»Tu dir keinen Zwang an.«
Susan blickte Reno nach, wie er mit seinen langen Beinen durch das Unkraut stiefelte und in Richtung Scheune verschwand. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und ging ziellos ein paar Schritte durch den Garten. Drehte sich dann um und schaute zum Haus. Dass es schon bald nicht mehr dort stehen würde, konnte sie sich kaum vorstellen. Sie hätte ihre Kamera mitnehmen sollen. Ein paar letzte Fotos von dem Haus machen.
Vielleicht morgen.
»San! Schau dir das an!«
Sie sah auf
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