Versuchung Pur
sollte.
Schon erstaunlich, dass ein schlichter Tanzabend als Abschluss eines Sommercamps in den Bergen ihr aufregender erschien als der eigene Debütantinnenball. Damals hatte sich gar keine Aufregung eingestellt, einfach deshalb, weil es der nächste Schritt auf dem seit ihrer Geburt vorgezeichneten Pfad gewesen war. Der heutige Abend war neu und voll unbekannter Möglichkeiten.
Und im Zentrum stand Chase. Das war Eden inzwischen fast bereit, sich einzugestehen, während ein neuer Song aus den Lautsprechern plärrte. Es war eines von den Liedern, die sie schon hundertmal gehört hatte, und so begann sie, mitzusummen. Ihr Pferdeschwanz wippte, während sie das nächste Banner mit Heftzwecken an der Wand festmachte.
»Wir fragen Miss Carlbough.«
Eden lauschte auf die Stimmen, die von unten zu ihr drangen, doch sie konnte nichts fragen, weil sie drei Heftzwecken im Mund hatte und mit einer Hand fünf Meter Krepppapier hochhielt.
»Sie weiß doch immer alles. Und wenn sie es nicht weiß, dann findet sie es heraus.«
Eden drückte die Heftzwecke in die Wand, doch als sie die Worte hörte, hielt sie inne. So sahen die Mädchen sie also? Als jemanden, auf den man sich verlassen konnte? Mit einem leisen Lachen drückte sie die letzte Heftzwecke in die Wand. Für sie war es das höchste Kompliment, das sie bekommen konnte, ein Zeichen des Vertrauens.
Sie hatte geschafft, was sie erreichen wollte. In drei kurzen Monaten hatte sie etwas geschafft, das ihr bis dahin in ihrem ganzen Leben nicht gelungen war. Sie hatte etwas erschaffen, aus eigener Kraft – und, vielleicht noch wichtiger, für sich selbst.
Nichts würde sie jetzt noch aufhalten.
Eden ließ die restlichen Heftzwecken in ihre Tasche gleiten. Der Sommer mochte seinem Ende zugehen, doch es gab noch endlos viele Herausforderungen zu meistern. Ob sie nun hier in South Mountain oder in Philadelphia war: Sie würde nie vergessen, was es bedeutete, an einer Aufgabe zu wachsen. Auf der Leiter drehte sie sich um, um herauszufinden, was die Mädchen sie hatten fragen wollen … und stutzte überrascht.
Eine große, beeindruckende Frau trat über die Schwelle und kam in den Raum hinein. Sie hatte schlohweißes Haar und trug ein elegantes dunkelrotes Kostüm. Um ihren Hals hatte sie gekonnt einen Hermès-Schal drapiert. Darunter blitzte eine zweireihige Perlenkette hervor. Auf ihrem Arm saß ein weißes Fellknäuel, das auf den Namen Boo Boo hörte.
»Tante Dottie!« Entzückt beeilte Eden sich, von der Leiter herunterzuklettern. Keine fünf Sekunden später war sie eingehüllt in Dotties ganz persönlichen Duft, eine Mischung aus exklusivem französischem Parfüm und Erfolg. »Es ist so schön, dich zu sehen.« Eden entzog sich der herzlichen Umarmung, um das geliebte, ausdrucksstarke Gesicht zu betrachten. In den Augen und um den Mund der Tante konnte sie die gleichen Züge wie die ihres Vaters erkennen. »Du bist eigentlich die Letzte, die ich hier zu sehen erwartet hätte.«
»Liebes, sag, sind dir hier auf dem Land Dornen gewachsen?«
»Dornen? Ich verstehe nicht … oh.« Lachend griff Eden in ihre Tasche. »Die Heftzwecken. Entschuldige.«
»Nun, für die stürmische Begrüßung nehme ich gern ein paar Löcher in Kauf.« Sie griff Eden bei der Hand und zog sie mit sich, um den Saal genauestens zu inspizieren. Mit keiner Regung zeigte sie, was in ihrem Kopf vorging, aber den erleichterten Seufzer konnte sie doch nicht ganz zurückhalten. Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, wie viele schlaflose Nächte sie hinter sich hatte, voller Sorge um die einzige Tochter ihres verstorbenen Bruders.
»Du siehst fantastisch aus. Ein bisschen mager, aber du hast wirklich wunderschöne Farbe bekommen.« Immer noch Edens Hand haltend, sah sie sich interessiert um. »Dennoch, Liebes … ein seltsamer Ort, um den Sommer zu verbringen.«
»Tante Dottie.« Eden schüttelte den Kopf. Nach dem Tode ihres Vaters hatte Dottie sich wochen- und monatelang beharrlich geweigert, zu akzeptieren, dass Eden ihr Vermögen nicht als Puffer und ihr Heim nicht als Zufluchtsort für die Übergangszeit nutzen wollte. »Für die Farbe ist die viele frische Luft verantwortlich.«
»Hmmm.« Dottie war alles andere als überzeugt. Ihr Blick wanderte unablässig durch den Raum, während ein neuer Song erklang. »Südfrankreich war für mich immer ländlich genug.«
»Aber jetzt sag mir doch endlich, was du hier machst, Tante Dottie. Erstaunt mich, dass du uns hier überhaupt gefunden
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