Versunkene Inseln
Ober flächenleichtern über die trockenen, roten Dünen, dem ausgelassenen Leben in den Wirtshäusern und Bordellen von Jurigrad – in Wirtshäusern und Bordellen, die natürlich sorgfältig so konstruiert waren, damit sie wie die auf der Erde aussahen. Als ich sie darum bat, mir etwas über den Mars selbst zu erzählen, über die Wüsten und Dünen, darüber, wie die Verbindungswege beschaffen waren und die Sterne aussahen, zuckte sie nur mit den Achseln, antwortete, darauf hätte sie nie geachtet, und wechselte das Thema. Sie gab mir zu verstehen, Luna begänne sie ebenfalls zu langweilen, und ließ sich über eine endlose Zahl von möglichen zukünftigen Betätigungsbereichen aus: Medizin vielleicht oder Recht oder eine Kunstart. Sie habe so gut wie keine Kenntnisse auf diesen Fachgebieten, aber es sei ihr auch nicht eilig damit, sie habe eine Ewigkeit, um zu lernen, Erfahrungen zu sammeln, es sich anders zu überlegen und eine neue Wahl zu treffen. Alle Zeit der Welt, und nichts würde sich ändern in all diesen Äonen. Das Bewußtsein meiner verborgenen Andersartigkeit stieg in mir empor und quälte mich; wenn die Wirtin einen entsprechenden Entschluß gefaßt hatte und sich einem anderen Betätigungsfeld zuwandte, war ich wahrscheinlich längst tot. Ich mied die Gesellschaft der Unsterblichen und verbrachte immer mehr Zeit inmitten der labyrinthischen Wunder der Mondbibliothek.
Luna ist eine dichtbevölkerte, enge Stadt, in der nicht ein Millimeter Platz verschwendet ist. Doch die Bibliothek erhob sich auf einer riesigen, weiträumigen Fläche von einem Quadratmorgen – eine gewaltige, atemberaubende Skulptur. Vom Bodenniveau aus waren nur die ersten zwei Ebenen des Gebäudes sichtbar. Es bestand aus gegliederten Deltoiden, die wabenförmig in die Höhe wuchsen, gebadet in Lachen aus gemasertem Glanz. Sie wirkten sowohl riesig als auch fragil, einerseits stabil und fest und andererseits so, als genüge ein Windhauch, um die ganze komplexe Struktur ins Wanken zu bringen. Diese beiden ersten Ebenen enthielten eine Vielzahl von Räumen, Gewölben, Kammern und weiten Hallen, die mit Unterlagen vollgestopft waren – und doch handelte es sich nur um die Indexbereiche. Der Hauptbestandteil des Gebäudes wand sich spiralenförmig ins Mondgestein hinein und war bis zum Bersten gefüllt mit Kopien – und manchmal auch Originalen – von allen Dingen, die die Erde und ihre Kolonien geschaffen hatten. Jede Ebene hatte, wie bei Agrumen, ihren Mittelpunkt im Hauptschacht, von dem radial Korridore nach weiter draußen gelegenen Räumen führten: ein riesiges Wabensystem unter der Stadt. Die Bibliothek reichte weiter als Luna-City in den Mond hinein, doch jene Sektionen, die mit der Stadt auf gleicher Höhe lagen, verfügten über eigene Zugänge und waren verschiedenen Fachgebieten gewidmet. Ein Stipendiat konnte also beispielsweise seinen Wohnsitz in Sektion drei von Luna aufschlagen und auf Ebene drei der Bibliothek seine Studien und Forschungen auf dem Gebiet der Physik betreiben, ohne jemals vertikale Reisen durch Stadt oder Bibliothek unternehmen zu müssen. Für jene, die zwischen den Ebenen und Fachgebieten zu wechseln wünschten, stellte die Bibliothek Lifter zur Verfügung, und der Zentralschacht diente als breite Autobahn durch den Gebäudekomplex. Ich blickte vom obersten Deltoid der Bibliothek in diesen Hauptschacht hinab und betrachtete die Lichter der sich unter mir erstreckenden Ebenen, bis sie nur noch kleine, glänzende Punkte in der Ferne waren – und ich war nicht einmal sicher, ob ich tatsächlich die unterste Sektion des Gebäudes gesehen hatte.
Ich verbrachte fast zwei Monate in der Bibliothek, schritt durch große, widerhallende Räume, in denen sich nur selten noch jemand anders aufhielt, und schwebte mit meinem Lifter von Ebene zu Ebene. Ich las mich durch ganze Äonen philosophischer Betrachtungen über die Sterblichkeit, das Altern, den Tod. Ich beschäftigte mich mit Wissenschaften und religiösen Doktrinen, mit Okkultem und Poesie. Ich sah mir Bildaufzeichnungen sterbender Menschen an und sann über Skulpturen und Gemälde nach. Ich entdeckte Petrukis Trauernde Andromeda, blieb anderthalb Stunden wie erstarrt davor stehen und lauschte den Grabgesängen und Requien, bis mir schwindelte. „Der beste Weg, keinen frühen Tod zu erleiden, ist der, die Freuden des Lebens und die Verachtung des Sterbens zu pflegen“, riet mir eine Stelle in einem dicken Wälzer, doch die Unsterblichen um mich
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