Versunkene Inseln
lernen mußte.
Die Überbleibsel jenes Tages waren dürftig. Die meisten der Artefakte waren bereits im Museum enthalten, und ich etikettierte sie fürs Lager und einen möglichen späteren Verkauf an andere Sammlungen. Ein paar Gegenstände waren einzigartig. Das beste Stück war ein Satz von Schreibfedern, die in einen durchsichtigen Plastikkasten eingelassen waren, der an der einen Seite eine Plakette aufwies. Diese Plakette war bis zur völligen Unleserlichkeit korrodiert, doch ich hielt es für wahrscheinlich, daß mit den Schreibfedern irgendein historisches Dokument unterzeichnet worden war. Es war das besterhaltene Artefakt, das wir bisher gefunden hatten. Ich wies ihm einen angemessen Platz in der Galerie zu und beschriftete es entsprechend.
Der Nachmittag verging in aller Ruhe, und ich gestaltete ihn ganz absichtlich so, versuchte, nicht an Paul und Benito zu denken und verdrängte alles, was nichts mit meinen Sortierungs- und Kennzeichnungsarbeiten zu tun hatte. Als ich damit fertig war, rief ich vom Computer eine Musikeinspielung ab, schob einen der leeren Schweber ans Fenster und hockte mich darauf. Ich betrachtete die Wellen, die hinter und unter der gewölbten Außenreling an die Flanken des Schiffes plätscherten. Das Museum lag auf dem ersten Deck über der Wasserlinie, und hier war das Meer sehr nahe.
Ich schloß die Augen und tastete zum erstenmal seit der letzten Nacht in mich hinein. Irgendwie befürchtete ich, meine neuentdeckten Fähigkeiten könnten wieder verlorengegangen sein. Doch mein Körper reagierte sofort auf meine streichelnden Gedanken. Ich ließ alles weit hinter mir zurück, Paul, Benito, die anderen Unsterblichen, die Ilium, versenkte mich in meine Innenwelt und erforschte und erkundete mein Selbst.
Die Zeit tropfte still und ruhig dahin während meiner Versunkenheit. Ich lernte, bestimmte Sekrete aus dem Magen in den Blutkreislauf diffundieren zu lassen, die chemischen Befehle zu unterscheiden, die zu dieser oder jener organischen Reaktion führten.
Ich spürte, wie meine Unsicherheit dahinschmolz, als meine Kontrolle zunahm, und ich unterbrach meine Forschungsreise kurz, um in einer Lache aus Zufriedenheit zu baden. Ich, Tia Hamley, ich bin mein eigener Herr.
Eine Dissonanz mischte sich in meine friedliche Abgeschiedenheit, ein schriller, durchdringender, entsetzter Schrei, der sich durch das dichte Gewebe meiner Konzentration bohrte. Er katapultierte mich in die Höhe und warf mich von dem Schweber herunter, auf dem ich gelegen hatte. Das Heulen dröhnte aus den hoch in der Decke eingelassenen Lautsprechern und erklang erneut, dann noch einmal.
„Wer ist da?“ übertönte Harkness’ Stimme das Kreischen. „Wo sind Sie?“
Nur Schreie. Nicht einmal der Versuch, artikulierte Worte hervorzubringen.
„Was ist los?“ gellte Grevilles Stimme. „Was ist los? Hören Sie auf zu schreien! Hören Sie auf!“
„Ich befehle Ihnen …“
„Seid still!“ Die Stimme war fest und beherrscht. Ich brauchte einen Augeblick, um sie als die von Jenny zu identifizieren. „Still! Greville, Harkness, seien Sie endlich still! Und jetzt … hören Sie auf zu schreien. Beruhigen Sie sich. Wir kommen Ihnen sofort zu Hilfe, wenn Sie uns sagen, wo Sie sind. Beruhigen Sie sich. Hören Sie auf zu schreien. Ganz ruhig. Wo sind Sie? Es kommt alles wieder in Ordnung, aber Sie müssen sich beruhigen. Sagen Sie uns nur, wo Sie sind, dann kommen wir, aber zuerst müssen Sie uns sagen, wo Sie sind.“
Das Schreien ging in eine andere Tonlage über, und derjenige, der so durchdringend heulte, brachte keuchend hervor: „Der Ma … schinen … raum …“ Dann setzte das entsetzte Kreischen erneut ein.
Ich ließ den Schweber zusammenschrumpfen, sprang hinauf, drehte die Düsen voll auf und raste durch das Museum auf den nächsten Fallschacht zu. Der Maschinenraum lag zwei Ebenen tiefer, und der Zugang befand sich auf der anderen Seite der Ilium.
Ich legte die Strecke in der kürzestmöglichen Zeit zurück, doch die anderen hatten den Raum bereits vor mir erreicht. Sie standen wie erstarrt an der Zentralplattform zusammen, als ich vom Schweber sprang und ihnen entgegeneilte.
Die Schreie hatten aufgehört. Lonnie stand ein wenig abseits der Gruppe; sie zitterte krampfartig, und auf der einen Wange, halb verborgen unter ihren steifen und wie gelähmten Fingern, zeigte sich das rote Mal einer Hand. Als ich näher kam, wandte sie sich um und preßte das Gesicht an Pauls Brust. Er hob ganz
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