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Verteidigung

Verteidigung

Titel: Verteidigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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unwahrscheinlich, dass sie ihn je finden würden. Möglicherweise waren die Vampirzähne bereits vor zwanzig Jahren produziert worden und hatten zehn Jahre lang in irgendeinem Lager herumgelegen, bevor sie in die USA versandt wurden, wo sie vielleicht noch einmal fünf Jahre in der Lieferkette festgehangen hatten. Hersteller und Importeur mochten noch im Geschäft sein – oder bereits vor Jahren pleitegegangen sein. Der amerikanische Druck auf die Chinesen, den Bleigehalt ihrer zahlreichen Produkte zu überwachen, war enorm, und oft war es unmöglich, herauszufinden, wer in dem Gewirr von Billigproduzenten überall in China was herstellte. Dr. Sandroni konnte auf unzählige Quellen zurückgreifen, er hatte in Hunderten von Verfahren mitgewirkt, aber nach vier Monaten intensiver Nachforschungen stand selbst er mit leeren Händen da. David und Helen hatten sämtlichen Flohmärkten und Spielzeugläden im Großraum Chicago einen Besuch abgestattet und eine erstaunliche Sammlung von künstlichen Gebissen und Vampirzähnen zusammengetragen, doch keines der Produkte war mit den Nasty Teeth identisch. Sie gaben nicht auf, traten im Augenblick allerdings auf der Stelle.
    Thuya war inzwischen zu Hause, aber schwerbehindert. Er hatte eine massive Hirnschädigung erlitten. Er konnte weder ohne Hilfe gehen noch verständlich sprechen, allein essen oder seine Körperfunktionen kontrollieren. Seine Sicht war eingeschränkt, und es fiel ihm schwer, auch nur einfache Anweisungen auszuführen. Wenn er nach seinem Namen gefragt wurde, öffnete er den Mund und gab einen Laut von sich, der wie »Tay« klang. Die meiste Zeit lag er in einem Spezialbett mit Schutzgitter, das nur mit großem Aufwand sauber zu halten war. Die Pflege des Jungen war ein täglicher Kampf, an dem sich die gesamte Familie und viele Nachbarn beteiligten. Wie es weitergehen sollte, wusste niemand. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich sein Zustand besserte, war den taktvollen Aussagen der Ärzte zufolge gering. Inoffiziell und außer Hörweite der Familie waren sie David gegenüber deutlicher geworden: Ganz im Vertrauen hatten sie ihn wissen lassen, dass sich Thuya weder geistig noch körperlich normal entwickeln würde und dass sie nichts für ihn tun konnten. Niemand wollte ihn aufnehmen – für Kinder mit Hirnschäden gab es keine Einrichtungen.
    Thuya wurde mit dem Löffel gefüttert und erhielt eine Spezialnahrung aus püriertem Obst und Gemüse, die mit dem täglichen Nährstoffbedarf angereichert war. Er trug Spezialwindeln für behinderte Kinder. Die monatlichen Kosten für Nahrung, Windeln und Medikamente beliefen sich auf sechshundert Dollar, von denen David und Helen die Hälfte übernahmen. Die Khaings hatten keine Krankenversicherung, und die hervorragende Versorgung, die er erhalten hatte, war ausschließlich der Großzügigkeit des Lakeshore Children’s Hospital zu verdanken. Wahrscheinlich war er nur deswegen überhaupt noch am Leben. Thuya war zu einer schmerzhaften Belastung geworden.
    Soe und Lwin bestanden darauf, dass er beim Abendessen mit am Tisch saß. Er hatte einen ebenfalls vom Krankenhaus gespendeten Spezialstuhl, in dem er so festgeschnallt wurde, dass er aufrecht sitzen und gefüttert werden konnte. Während die übrige Familie Burger und Pommes verputzte, verabreichte Helen Thuya die Nahrung mühselig mit einem Babylöffel. Um zu üben, wie sie sagte. David saß mit einem Küchentuch auf der anderen Seite von Thuya und unterhielt sich mit Soe über Leben und Arbeiten in Amerika. Thuyas Schwestern, die mit den amerikanischen Namen Lynn und Erin angeredet werden wollten, waren acht und sechs Jahre alt. Sie sagten während des Essens nicht viel, aber ihr Englisch war fehlerfrei und ohne Akzent. In der Schule hätten sie nur die besten Noten, erzählte Lwin.
    Vielleicht waren es die trüben Zukunftsaussichten, oder es lag an der mehr als bescheidenen Existenz, die sich die verzweifelten Einwanderer aufgebaut hatten, aber die Stimmung war stets sehr ernst und gedrückt. Immer wieder sahen Eltern, Großeltern und Schwestern Thuya an, den Tränen nahe. Sie erinnerten sich an das laute, lebhafte Kind, das so gern lächelte und lachte, und konnten sich nur schwer damit abfinden, dass sie es nie wiedersehen würden. Soe fühlte sich schuldig, weil er das Gebiss gekauft hatte. Lwin fühlte sich schuldig, weil sie nicht besser aufgepasst hatte. Lynn und Erin fühlten sich schuldig, weil sie Thuya dazu gebracht hatten, mit den Vampirzähnen zu

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