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Vertragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker?: Tragikomisches von unserem Körper und denen, die ihn behandeln (German Edition)

Vertragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker?: Tragikomisches von unserem Körper und denen, die ihn behandeln (German Edition)

Titel: Vertragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker?: Tragikomisches von unserem Körper und denen, die ihn behandeln (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederik Jötten
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damit diese Leute eine halloweentaugliche Version meines Gebisses aus Gips herstellen konnten. Der Brechreiz war überwältigend. Als es mir gleich beim ersten Mal nicht gelang, ihn zu unterdrücken, war der Kittel des Kieferorthopäden nicht mehr rein, und mein Gewissen auch nicht. Fortan galt ich in der Praxis als Borderline-Patient, bei dem man sich vorsehen musste. Jetzt, im Rückblick, bin ich ein bisschen stolz darauf, dem Kieferorthopäden einen mitgegeben zu haben. Aber damals hatte ich eine Heidenangst vor dieser Paste.
    Ich hatte schiefe Zähne, keine Frage. Mein rechter Schneidezahn hatte es geschafft, sich vor meinen linken zu schieben. Nach zwei Jahren Spange war das behoben. Aber mein Kieferorthopäde wollte meine Eltern offenbar noch weiter melken und schaffte es, meiner Mutter einzureden, dass meine Gebisssituation so desolat wäre, dass ich spätestens mit Anfang 20 nicht mehr anständig würde reden und kauen können, bestenfalls noch atmen, wenn ich jetzt vorschnell aufgäbe. Die Folge: Erst mussten meine Weisheitszähne raus, was ein blutiges und hässliches Erlebnis beim Zahnarzt war. Und dann bekam ich auch noch diesen demütigenden Drahtbügel verpasst, der außen am Kiefer verlief. Man bekam an seinen Backenzähnen Metallklammern befestigt, die kleine Steckvertiefungen hatten. Da hinein wurden die zwei Spitzen des inneren Bogens der Außenspange gesteckt. Das war gar nicht so einfach, weil sie unter Spannung standen. Dann musste man sich noch eine Haltevorrichtung um den Kopf schnallen und sah dann ungefähr so bescheuert aus, als wäre man mit einem Kleiderbügel vermöbelt worden.
    Eigentlich sollte ich dieses Ding 16 Stunden am Tag tragen. Da der Tag bekanntlich nur 24 hat, musste man sich entscheiden: Entweder in der Schule zum Aussätzigen zu werden. Oder nach der Schule nicht mehr das Haus zu verlassen – und schlicht seine Kindheit zu verpassen.
    Es gab Kinder, die sich mit diesem Zahnspangenmonstrum allen Ernstes in die Schule wagten. Wahrscheinlich hatten ihnen ihre Eltern Prügel angedroht. Dieses Ding sah nicht nur bescheuert aus, es tat vor allem höllisch weh. Normaler Schlaf war auch kaum möglich. Solch eine «Therapie» einem Kind zuzumuten, ist eigentlich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
    Wir alle hatten Angst, von diesen Folterknechten eine dauerhafte Spange verpasst zu bekommen. Wie in diesen Horrorfilmen, wo Kinder über Nacht von Viren oder Pilzen oder Außerirdischen in willenlose Zombies verwandelt werden, fiel einer nach dem anderen dem Kieferorthopäden zum Opfer. Am Tag zuvor noch lebensfrohe, unbeschwerte Teenager, schlurften sie am nächsten Morgen mit hängenden Schultern und leerem Blick in die Schule und sagten nichts mehr. Aus Scham, denn beim Öffnen des Mundes offenbarte sich das Kainsmal. Bei manchen rauschten die mündlichen Noten deswegen in den Keller. Die Mädchen taten mir besonders leid. Verständlich, dass angesichts all dessen mein Hass auf Kieferorthopäden wuchs und meine Motivation sank, noch länger eine Spange zu tragen.
    Eine Woche nach der Verbalattacke brach ich die jahrelange Behandlung endgültig ab. Es war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Und die Wissenschaft gibt mir recht (siehe Infoteil). Mein Entschluss bewahrte mich davor, den Rest meines Lebens mit einem Gebiss herumzulaufen, das ein Großteil meiner Generation bei jedem Lächeln zur Schau trägt: nach innen gebogene Zahnreihen, die dermaßen künstlich, und – ich muss es einfach so sagen – schlicht scheiße aussehen. Schauen Sie sich mal die Zähne von Jörg Pilawa oder Oliver Geissen an, dann wissen Sie, was ich meine. In den 80 er Jahren waren Kieferorthopäden offenbar äußerst erfolgreich darin, unseren Eltern ein Schönheitsideal aufzuschwatzen, das ungefähr so zeitlos schön ist wie Schulterpolster, Vokuhila-Frisuren und Moonwashed Jeans.
    Hässliche Zähne zu haben, ist sicher nicht das Beste fürs Selbstbewusstsein. Aber fördert man es etwa, wenn man einen Teenager in dieser wichtigen Phase seiner Ich-Entwicklung so entstellt? Dabei kann man auch im Erwachsenenalter noch schiefe Zähne korrigieren. Aber die Krankenkasse zahlt ja leider nur bis zum 18 . Lebensjahr, nicht wahr, liebe Kieferorthopäden?
    Zahnspangen – fast immer reine Kosmetik
    2008 veröffentliche das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums eine Bestandsaufnahme der Auswirkungen der Kieferorthopädie auf

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