Vertragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker?: Tragikomisches von unserem Körper und denen, die ihn behandeln (German Edition)
Scheitelpunkt strebt zum Himmel, das Steißbein Richtung Boden, lasst dort alles rausfließen, was nicht mehr zu euch gehört, gebt es der Erde zurück.» Ich schaue mich ängstlich um, hoffe, dass das keiner wörtlich nimmt. Doch so entspannt ist zum Glück noch niemand.
«Unsere Energie sitzt in den Nieren, sie verbraucht sich mit den Jahren, wenn sie weg ist, sterben wir.» Wie soll ich so ruhig werden und meine Lebensenergien harmonisieren? Dieser unfassbare Schwachsinn regt mich auf. Ich frage mich, warum die Medizinstudentin nicht raus rennt. Aber nein, sie sieht ganz entspannt aus – vielleicht hat sie in Urologie nicht aufgepasst. Hoffentlich werde ich nie ihr Patient. So was denke ich, statt zu entspannen. Ich weiß, das ist kontraproduktiv, aber ich kann es nicht ändern.
Zum Glück gibt es jetzt etwas Action. Wir klopfen unsere Meridiane ab, ganz wichtig der Blasenmeridian am hinteren Oberschenkel, am Rückgrat, am Hinterkopf, am Auge – der ist anscheinend überall! Das ganze Leben, gesteuert vom Harndrang? Ich sehe ein, dass das manchmal der Fall ist, wenn man dringend muss – aber immer?
Die Medizinstudentin macht ungerührt mit. Dabei gibt es keinen Nachweis, dass Meridiane überhaupt existieren. Merkwürdigerweise fühle ich mich aber besser, fitter, nachdem ich auf meinem Körper rumgetrommelt habe. Wahrscheinlich die Durchblutung, die Bewegung oder beides. Dann legen wir uns hin. «Wir atmen tief ein und sagen uns dabei Ruuuhe – und beim Ausatmen lächeln wir.» Das gefällt mir, es erinnert mich an autogenes Training.
Als Oberstufenschüler habe ich darin einen Volkshochschulkurs belegt. Meine Mitschülerinnen waren durchschnittlich dreimal so alt wie ich, wir lagen auf Matten im Musiksaal meines Gymnasiums und spürten, wie unsere Beine schwerer wurden – das ist ein Teil des autogenen Trainings. Wir sollten jeden Tag üben, und das tat ich, immer mittags, wenn ich von der Schule kam. Irgendwann schlief ich ein dabei. Nach 20 Minuten wachte ich wieder auf, und es ging es mir bedeutend besser, als wenn ich nur autogenes Training gemacht hatte.
«Langsam wieder zurückkommen», sagt die Kursleiterin. Ich erschrecke – ich muss für ein paar Sekunden weggedöst sein. Verdammt, wie entspannend wäre es gewesen, kurz zu schlafen. Stattdessen muss ich mir noch anhören, dass das Chi durch meine Meridiane fließt. «Es ist unsere Lebenskraft, es ist das Lebendige in uns, das, was unsere Batterien am Laufen hält», sagt Gaby. Ich denke: Kann der bitte jemand die Batterien rausnehmen? Was mich am Laufen hält, ist Schlaf! Der ist älter als autogenes Training, Qigong und sogar Zen-Buddhismus!
Vergesst den Entspannungsquatsch. Der Mensch muss einfach pennen. Ich will ins Bett.
«Wir sind zu angespannt.»
Volkmar Höfling, Psychologe und stellvertretender Leiter der Verhaltenstherapie-Ambulanz der Goethe-Universität Frankfurt, über Entspannungstechniken und Achtsamkeit.
Wenn wir eine Aufgabe bewältigen müssen, die uns fordert, steigen Blutdruck und Herzfrequenz, wir werden wacher und aufmerksamer. Im Idealfall ist es so, dass diese Stressreaktion nachlässt, sobald die Herausforderung vorbei ist. Aber viele Menschen bleiben lange angespannt, sind chronisch gestresst und haben Schlafstörungen.
Für sie ist es sinnvoll, Entspannungstechniken anzuwenden, zum Beispiel die Progressive Muskelentspannung ( PME ) nach Jacobsen. Dabei werden der Reihe nach verschiedene Muskeln je sieben Sekunden angespannt und danach entspannt. Die Relaxation der Muskeln bewirkt, dass sich auch der gesamte Organismus entspannt. Viele Studien haben gezeigt, dass Patienten, die die PME anwenden, sich subjektiv wohler und weniger ängstlich oder angespannt fühlen – bei regelmäßiger Anwendung. Ähnliche Wirkungen werden durch das autogene Training erzielt, das von der Technik etwas anders ist. Nachgewiesen ist durch Studien, dass diese beiden Techniken Schlafstörungen, Schmerzen und Bluthochdruck bessern.
Heute ist in der Psychologie öfter von «Achtsamkeit» die Rede. Beim Üben von Achtsamkeit geht es um das Wahrnehmen im gegenwärtigen Augenblick, ohne diese Erfahrungen zu bewerten, ohne sich in Grübeleien, Erinnerungen oder Zukunftsplanungen zu verstricken. Wir geraten gedanklich oft in einen «Autopilotmodus», in automatische Gedankenketten, sobald Ruhe einkehrt. Wir denken dann daran, was gestern passiert und morgen zu tun ist – ohne, dass das in diesem Moment wirklich produktiv und sinnvoll
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