Vertrau deinem Herzen
machen. Durch das Laub der Bäume konnte man den weit unten liegenden See saphirblau aufblitzen sehen.
„Wenn wir uns hier verlaufen“, bemerkte Aaron, „finden die uns nie.“
JD sagte nicht, wie gut ihm dieser Gedanke gefiel. „Nach dieser Karte hier sind wir jetzt am höchsten Punkt über dem See.“ Er zeigte Aaron die topografische Wanderkarte aus der Ranger Station.
„Nein“, rief Aaron und rannte ein paar Meter vor. „Der ist hier, direkt an der Markierung.“
Und tatsächlich: Da stand ein Stein mit einer kleinen Plakette, die die Höhe über dem Meeresspiegel angab. Sie setzten sich auf einen großen Stein und ließen ihre Blicke über die majestätische, atemberaubende Aussicht gleiten. JD nahm den Anblick mit einem Gefühl von Ehrfurcht und Einmaligkeit in sich auf. Im Osten machten sich die Leute ja keine Vorstellung davon, dass es noch Wälder und Seen gab, wo die Luft so klar war wie hier.
Aaron konnte nicht lange stillsitzen. Er fand einen Stock, dem er dem Hund zuwarf. JD beobachtete die beiden. Er fragte sich, inwieweit der Ort, an dem jemand aufwuchs, Einfluss auf seinen Charakter hatte. Wenn er in einem kleinen Dorf im Hinterland aufgewachsen wäre statt in einem Miethaus in Baltimore, wäre er dann ein anderer geworden?
Vielleicht nicht. Drogenabhängige gab es überall, und seine Mutter hätte hier draußen genauso viele Probleme gehabt wie in der Stadt. Beim Gedanken an Janet verfinsterte sich seine Miene. Sie war der Grund für seine Reise nach L. A., nicht ein Aufnahmegespräch an der Uni, wie Kate vermutet hatte. Ein Teil von Janets Therapie war der Besuch von Familienmitgliedern, und da war er nun mal der Einzige. Er hoffte nur, dass man ihn bei seinem Besuch nicht erkannte.
„Bitte lächeln!“ Aarons Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, und die Digitalkamera fing seinen überraschten Gesichtsausdruck ein.
JD bezwang das Gefühl der Paranoia, das sich seiner bemächtigen wollte. Er ist nur ein Kind, sagte er sich, ein Kind, das einen Schnappschuss macht.
Ein Kind, dessen Mutter freie Journalistin war.
„Lass mich mal ein Foto von dir machen“, schlug er vor. „Direkt da, am Gipfel des Berges.“
Aaron reichte ihm die Kamera. Es war nicht einfach ein Spielzeug für Kinder, sondern ein topmodernes Gerät. JD fragte sich, wie man hier wohl Bilder löschte.
Aaron posierte wie ein Eroberer, einen Fuß auf dem Markierungsstein, seinen Wanderstab fest in den Boden gestemmt. Bandit lag hechelnd zu seinen Füßen. Der Wind zupfte an Aarons karottenroten Haaren, und die Sonne tanzte in seinen Augen. Mit einem Mal überkam JD ein ganz seltsames Gefühl. Eine unerwartete Mischung aus Stolz, Zuneigung und Heiterkeit, die von etwas Tiefem begleitet wurde. Etwas, das er zuvor noch nie empfunden hatte und kaum zu deuten wusste.
JD war kein Vater, aber jetzt wusste er mit einem Mal, was ein Vater für seinen Sohn empfand: Es war eine tiefe Zärtlichkeit, die ihn im Innersten berührte, wenn er Aaron bei den einfachsten Dingen beobachtete – wie er ein Glas Milch trank, mit dem Hund spielte, Anlauf nahm und vom Steg aus ins Wasser sprang. Es war vernichtend und überwältigend und gleichzeitig von stiller Freude begleitet. Er dachte an Kate, die diesen Jungen mit ganzer Seele liebte, und fragte sich, wie der Mann, der Aarons Vater war, es geschafft hatte, sich vollkommen rauszuhalten.
„Lass mich mal sehen“, sagte Aaron. „Du musst den Knopf nach unten schieben und dann den Pfeil nach links drücken.“
Das Bild von Aaron tauchte auf dem kleinen Bildschirm auf. JD war kein professioneller Fotograf, aber er hatte den Ausdruck jugendlichen Muts, die strahlende Unschuld und den unterschwelligen Stolz des Jungen perfekt eingefangen.
Neugierig drückte er noch einmal auf den Pfeil. Da war er, live und in Farbe. Er schaute sich noch ein paar weitere Bilder an und entdeckte eine ganze Strecke, die ihn beim Erklimmen des Berges zeigte. Er sah darauf entspannt und zufrieden aus. Er war sich überhaupt nicht bewusst gewesen, dass er fotografiert wurde.
„Hey“, sagte er zu Aaron. „Bist du ein Geheimagent oder so?
Aaron grinste. „Ja, genau. Wie hast du das nur herausgefunden?“
„Wo ist die Taste zum Löschen?“
„Das verrate ich nicht. Auf gar keinen Fall wirst du meine Bilder löschen.“
„Du brauchst die Fotos von mir doch gar nicht. Sie nehmen nur Speicherplatz weg.“
Aaron schnappte JD die Kamera aus der Hand. „Brauche ich wohl.“ Seine Ohren und Wangen nahmen
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