Vertrau deinem Herzen

wären – den Wert von Zuneigung und Mitgefühl. Die heilenden Kräfte der kindlichen Fantasie waren eines der mächtigsten Werkzeuge in seinem Arsenal. Das und die Feuerwache am Ende der Straße.
    Manche Kinder wuchsen mit einem Vater oder Stiefvater auf; JD hatte eine ganze Feuerwache um sich. Er hatte nie darum gebeten. Aber bald nachdem er begonnen hatte, dort in der Nähe herumzulungern, waren die Männer auf ihn aufmerksam geworden. Er aß dort öfter als zu Hause, fand bei den Feuerwehrleuten und Sanitätern mehr Akzeptanz und Führung als jemals bei seiner Mutter.
    Jetzt, wo er selber Sanitäter war, verstand er es. In diesem Beruf entwickelte man einen siebten Sinn für Menschen, so wie er jetzt in Bezug auf Callie Evans. Unter Kate Livingstons Dach erfuhr das Mädchen diesen Sommer sehr wahrscheinlich mehr Stabilität und Mitgefühl als in ihrem ganzen Leben zusammengenommen.
    So war Kate. Er kannte sie kaum, aber sie schien ihm echt zu sein, so warm und hingebungsvoll wie damals die Mütter im Fernsehen, so liebend und großzügig wie die, die er sich für seine Vorstellung in der Schule ausgedacht hatte. Und sogar in einem alten T-Shirt und abgeschnittenen Jeans sah sie aus wie ein Unterwäschemodel.
    Er ging in den Schuppen, um sich wieder an die Arbeit an Sams Boot zu machen. Jahrelang hatte JD sich Geschichten von dem Boot angehört, Bilder gesehen, war von Sam beinahe angefleht worden, mit ihm raus auf den See zu fahren.
    Gut, dass Sam das Boot in seinem jetzigen Zustand nicht gesehen hatte. Das Holz war trocken und porös, einige Rippen waren gebrochen, Planken durchgefault, und die äußere Harzschicht hatte sich in Staub aufgelöst. Da JD nicht sonderlich viel über Boote wusste, hatte er sich mit Büchern, Zeichnungen, Anleitungen und vor allem viel Entschlossenheit ausgerüstet, um dieses spezielle Boot zu restaurieren. Die Schroeders hatten eine gut ausgestattete Werkstatt, und was an Werkzeugen fehlte, hatte er sich in der Stadt gekauft. Ein Boot zu bauen bedurfte der Präzision eines Chirurgen und der strikten Befolgung bestimmter Regeln. Das gefiel ihm. Man benutzte keine Eisennägel, sondern Dübel aus Dattelholz oder Schwarzkirsche. Jeder Spalt, jeder Falz musste versiegelt werden.
    JD wusste nicht, warum, aber irgendetwas drängte ihn, diese Arbeit zu tun – die kaputten Teile zu reparieren, die Narben zu glätten und das Boot wieder seetauglich zu machen. Es war ein Projekt mit einem konkreten Ergebnis. Etwas, wobei es nicht um Leben und Tod ging. Dieser Patient schrie ihn nicht an oder übergab sich auf ihm. Er würde ihm nicht unter den Händen wegsterben. Ja, das machte die Anziehung aus. Sogar wenn er es vermasselte, würde es niemanden das Leben kosten.
    Er legte das Boot mit dem Kiel nach oben auf zwei Sägeböcke. Es war an der Zeit, den Rumpf abzuschleifen, die Risse zu kitten, das Holz zu versiegeln und das gute Stück zum Leben zu erwecken. Er benutzte mehr Klammern als ein Unfallchirurg. Die neben ihm stehende Mülltonne füllte sich mit Holzspänen und Sägemehl, die Luft mit dem Geruch nach Zedern und Fichte. Musik wehte vom Haus herüber. Callie hatte ein Album von Jethro Tüll gefunden. Ab und zu konnte er sie durch das Fenster arbeiten sehen.
    Er verlor jegliches Zeitgefühl. Die Sonne wanderte langsam über den See, ließ ihre Strahlen glitzernd und funkelnd auf der Oberfläche tanzen. Eine Gruppe Wildenten flog auf und zog eine Spur wie Diamanten glitzernde Wassertropfen hinter sich her, als sie sich gen Himmel erhoben. Jethro Tüll ertönte mit „Thick as Brick“ aus der Anlage. Hinter seinem Mundschutz schwitzend, die Arme und Hände von Sägemehl bedeckt, fühlte JD etwas Unerwartetes in seinem Magen flattern. Eine Veränderung, eine seltsame Beschwingtheit. Er brauchte einen Augenblick, um es einordnen zu können. Dann stellte er fest, dass er das erste Mal seit dem Attentat glücklich war. Nicht generell, aber in diesem Moment. Einfache Arbeiten mit den Händen auszuführen, der Musik zuzuhören, die Sonne auf dem Rücken zu spüren – das alles zusammen gab ihm das Gefühl, das er lange, lange nicht verspürt hatte.
    Dieses Boot wird in seiner alten Schönheit erblühen, das schwor er sich.
    Aus dem Cottage erklang Eric Claptons „Layla“, und schon dachte JD wieder an Kate. Das Abendessen bei ihr hatte ihm viel zu viel bedeutet. Für sie war es nur ein einfaches Essen gewesen. Etwas, das jeden Tag passierte. Sie konnte nicht wissen, dass es für ihn etwas