Vertrau deinem Herzen
eigenes Leben geben würde, um einen anderen Menschen zu retten. Anfangs hatten die Medien die Geschichte der mutigen, hart arbeitenden, alleinerziehenden Mutter aufgesogen wie ein Schwamm, hatten Janet zu einem Vorbild für alle Frauen des Landes erhoben.
Dann hatte ein neugieriger Reporter etwas an der Oberfläche gekratzt und war unvermeidlich auf die Wahrheit gestoßen.
Zu Callie sagte JD: „Vielleicht steckt ein Fünkchen Wahrheit darin, aber auch der ist so verzerrt worden, dass er zu dem passt, was der Reporter sagen will.“
Callie schwieg eine ganze Weile. Die Musik aus dem Haus wechselte zu Green Day. Er sah, wie ihre Lippen sich bewegten, aber konnte nicht hören, was sie sagte.
„Wie war das?“, hakte er nach.
„Ich sagte: Meine Mom sitzt im Gefängnis.“ In ihren Augen spiegelte sich eine ganze Welt des Schmerzes. Er rührte an seinem eigenen Schmerz, was sie zu wissen schien, denn sie sah ihn erwartungsvoll an.
Oh, er kannte sie. Es war, als wenn er durch einen Spiegel in die Vergangenheit schaute. Er erkannte ihren Schmerz, weil er das Gleiche vor langer Zeit in seinem eigenen Spiegel gesehen hatte. Tu es nicht! warnte er sich. Aber er konnte nicht ignorieren, was er in Callie sah. Ob es ihm gefiel oder nicht: Sie waren verwandte Seelen.
Er dachte, er hätte seine Jugend hinter sich gelassen; Callie jedoch erinnerte ihn daran, dass ihm das niemals gelingen würde. Damit war sie natürlich nicht die Erste. Bei der Arbeit hatte er diesen Blick auf mehr Gesichtern gesehen, als er zählen konnte. Kinder, deren Eltern ihrem verkorksten Leben einfach den Rücken gekehrt und ihre Kinder zurückgelassen hatten. Kinder, die keine Ahnung hatten, was der nächste Tag bringen würde. Kinder, wie er eines gewesen war.
„Warum legst du die Zeitschrift nicht weg und setzt dich?“, bat er Callie. „Ich werde dir die echte Wahrheit erzählen.“ Er spürte, dass Ehrlichkeit ihr gegenüber vielleicht ein Weg war, wie sie sich ihm öffnen würde. Trotzdem war er nervös. Er hatte noch nie über seine Mutter gesprochen.
„Bevor das alles passiert ist“, fing er an, „hatten meine Mutter und ich zwölf Jahre lang nicht miteinander gesprochen.“
„Das verstehe ich nicht. Wieso?“
Es war nicht seine Idee gewesen, die Beziehung zu seiner Mutter zu opfern. Das war von ihr ausgegangen. Er schnappte sich ein Papierhandtuch und wischte sich den Schweiß und Staub vom Gesicht. „Sie wollte nichts mehr mit ihrer Vergangenheit zu tun haben, mit ihren Zeiten als Drogenabhängige. Und dazu gehörte nun mal auch ich.“
Callie nickte. Sie verstand scheinbar, dass manche Frauen zu so etwas in der Lage waren.
„Wie auch immer: Sie ist nach L. A. gezogen und hat sich nie wieder bei mir gemeldet.“
„Bis Sie der Star der Abendnachrichten geworden sind“, ergänzte Callie und legte das Magazin auf einen der Sägeböcke. „Ich hab gehört, dass sie eine Radiosendung in Orange County hat.“
„Dieser Teil stimmt.“
„Ich wette, die hat sie nur, weil sie Ihre Mutter ist.“
„Die Wette würdest du gewinnen.“
Sie kapierte schnell. Nach dem Vorfall wollte seine Mutter ein Stück vom Kuchen abhaben, genau wie der Rest der Welt. Nach einer tränenreichen Wiedervereinigung – ihre Tränen flössen in Strömen, nicht seine –, hatte sie ihre Version der Geschichte jedem erzählt, der einigermaßen gut dafür bezahlt hat. Dazu gehörten dann auch die wenigen grobkörnigen Fotos, die einen dünnen, breit grinsenden Jungen mit seiner lachenden Single-Mutter zeigten.
Er betrachtete die Fotos, die auch in der Klatschzeitschrift abgebildet waren, die Callie gefunden hatte, und ihm fiel auf, dass er diese Leute nicht wiedererkannte. Auf den Bildern, die an der Küste von Maryland, in einem Stadtpark oder bei einem Schulpicknick aufgenommen worden waren, sahen sie glücklich aus. Der zukünftige Held und die Mutter, die ihn zu einem Mann des Mutes und der Ehre erzogen hatte, wenn man ihren Reden Glauben schenkte. Sie sahen glücklich aus. Aber das war eine falsche Erinnerung, die außerhalb der Fotos nicht existierte.
Fotos hatten manchmal diesen Effekt. Niemand will einer bohrenden, starr schauenden Linse sein wahres Gesicht zeigen. Vor allem nicht, wenn dieses Gesicht von Elend überschattet ist. Egal, wer man war, wie reich oder wie arm, egal, wen man vögeln musste, um den nächsten Schuss zu finanzieren, für die Kameras setzte man immer sein schönstes Lächeln auf.
Immer, wenn er ein Foto seiner Mutter
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