Vertraue nicht dem Feind
stets eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Seltsamerweise wirkte Reeses Anwesenheit ebenso auf sie – und rief noch eine ganze Reihe anderer, schwer definierbarer Gefühle in ihr wach. Gefühle, von denen sie schon befürchtet hatte, sie nie wieder empfinden zu können. Das musste etwas bedeuten. Aber was? Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. »Es ist so: Ich mag dich. Obwohl ich lange Zeit niemanden mochte, nicht einmal mich selbst.«
Reese schwieg und rührte sich nicht.
»Ich hatte mich schon daran gewöhnt, mich …« Sie wollte nicht melodramatisch werden, aber das war nun mal das einzige Wort, das passte. »Mich hässlich zu fühlen.« Innerlich und äußerlich.
»Das bist du nicht«, widersprach er im Brustton der Überzeugung.
Er war eben ein lieber Kerl und würde alles versuchen, um sie zu trösten. Aber das wollte sie überhaupt nicht. »Irgendwann beschloss ich dann, dass ich wohl nur unscheinbar bin.«
Er verschränkte die muskulösen Arme und beugte sich vor. »Ganz und gar nicht.«
Sie atmete jetzt schneller, tiefer. »An der Art, wie du mich ansiehst, kann ich erkennen, dass du das nicht so siehst.«
»Verrate mir, warum
du
so denkst.«
Nein, unmöglich. Aus unzähligen Gründen durfte sie nicht ausführlicher werden. »Das kann ich nicht.«
»Kannst du oder willst du nicht?«
»Wahrscheinlich beides.« Sie nahm all ihren Mut zusammen und blickte direkt in seine durchdringenden, grünen Augen. Sie erkannte sein Mitgefühl. Doch sie wusste, dass sie kein Mitleid verdiente. Sie verdiente überhaupt nichts.
Nicht nach dem, was sie getan, was sie hatte geschehen lassen.
Wie feige sie damals gewesen war.
Doch das ist jetzt vorbei.
Sie hatte eine zweite Chance bekommen, und die würde sie nach Kräften nutzen.
Reese hatte von Liebe gesprochen. Wer ihn liebte, musste auch seinen Hund lieben.
Das war einfach, denn schließlich hatte sie in der Sekunde, in der sie Cash das erste Mal gesehen hatte, ihr Herz an ihn verloren. Dass Reese zum Hund gehörte und anders herum, das war in jedem Fall eine schöne Zugabe.
Es schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte sich damit abgefunden, dass die Liebe für sie unerreichbar geworden war. Sie war ihrer unwürdig.
Zumindest war es so gewesen.
Und jetzt?
Sie sehnte sich danach, die Gefühle, die er in ihr weckte, zu erforschen. Wagte sie es denn auch?
Sie würde nie wieder feige sein.
Mit einem Räuspern vertrieb sie die würgende Unsicherheit aus ihrer Kehle und zwang sich dann, ihn anzusehen. Er betrachtete sie so intensiv, dass sie es bis ins Herz fühlen konnte. »Wann kannst du zurück in deine Wohnung?«
Die Sekunden verstrichen. »Du hast es wohl eilig, mich loszuwerden?«
»Keinesfalls.« Alice gestand ihm die Wahrheit. »Ich hoffe vielmehr, dass du auch weiterhin eine Unterkunft brauchst. Das heißt, ich hoffe, dass du noch länger hierbleiben möchtest.« Und nur für den Fall, dass er nicht begriff, fügte sie hinzu: »Bei mir.«
Er ließ sich zurückgegen die Stuhllehne fallen. Seine Augen waren geschlossen, seine Miene wirkte verdrossen. »Du redest nicht gern um den heißen Brei herum, was?«
Als ihr so großzügig die Chance auf ein neues Leben zuteilgeworden war, hatte sie sich geschworen, in jeder Hinsicht immer geradeheraus und direkt zu sein. Sie hatte Interesse an Reese. Wie tief dieses Interesse ging, wusste sie noch nicht, aber sie wollte es herausfinden.
»Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«
Er lachte halbherzig, schlug die Augen auf und musterte sie erneut.
»Du solltest dich zu nichts verpflichtet fühlen«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Zu gar nichts.« Oh Gott, das klang furchtbar. »Ich meine, du kannst hier jederzeit übernachten. Auf der Couch.«
Du machst es immer schlimmer, Alice.
Sie nahm all ihren sinkenden Mut zusammen und bemühte sich, ein ernsthaftes Gesicht zu machen. »Ich wollte dich nicht anbaggern, so wie Pam und Nikki es tun.«
»Mir ist der Unterschied durchaus bewusst.«
Selbstverständlich. Sie kam sich wie ein Idiot vor.
Reese lächelte ihr zu. »Weißt du, ich hätte dich sowieso darum gebeten.«
Ihre verkrampften Schultern entspannten sich ein wenig. »Du möchtest also bleiben?«
»Aus mehreren Gründen. Vor allem solltest du nach der Aufregung der gestrigen Nacht nicht alleine bleiben. Ja, du hältst dich tapfer, und nachdem ich jetzt ein wenig über deine Vergangenheit weiß, kann ich zumindest einigermaßen nachvollziehen, warum du dich so gut bewaffnet
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