Vertraute der Sehnsucht (German Edition)
er in den letzten, am Ende des Betonkorridors gelegenen Raum trat.
Etwas knirschte unter seinem Stiefelabsatz. Eine Glasscherbe.
Er blieb stehen und hob sie auf. Mit der kleinen Spiegelscherbe zwischen Daumen und Zeigefinger hob Nathan den Blick und scannte jeden Zentimeter des dunklen Raums, seine Stammesaugen scharf im Dunkeln.
Er legte den Kopf schief und zoomte auf einen Gegenstand ein, der oben auf der zerwühlten Bettdecke lag. Sogar jetzt war er versucht, ihn als unwichtig abzutun. Nur ein zerbrochener Spiegel, hastig auf das ungemachte Bett geworfen, als die Rebellen die Festung räumten.
Nur dass sie nicht überstürzt abgezogen waren.
So viel hatte Nathan schon früher vermutet, als klar wurde, dass sie genug Zeit gehabt hatten, Waffen und Ausrüstung, Kleider und Lebensmittel mitzunehmen. Dann hatte Torin es ihnen durch seine Energiefeldanalyse des Bunkers bestätigt.
Bowman und seine Rebellen waren mit Mira zu ihren eigenen Bedingungen verschwunden, nicht in Panik. Sie hatten genug Zeit gehabt, alles verschwinden zu lassen – bis auf einen winzigen Glassplitter auf dem Boden. Der Spiegel war auf dem Boden zerbrochen, jemand hatte die Scherben bis auf eine aufgekehrt, und doch hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, auch den zerbrochenen Spiegel mitzunehmen.
Und jetzt prickelten Nathans Jäger-Instinkte angesichts einer kalten Erkenntnis.
Der Spiegel war nicht aufs Bett geworfen und vergessen, sondern absichtlich dort zurückgelassen worden.
Er ging hinüber und hob ihn auf. Starrte auf die kunstvoll gearbeiteten Intarsien auf seiner Rückseite aus poliertem Silber. Das Wappen war ihm sofort vertraut, obwohl er es schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte – nicht seit die Familie, der das Emblem mit Pfeil und Bogen gehörte, fast völlig ausgelöscht worden war.
»Archer«, murmelte Nathan leise. Dann einen Fluch, in dem sich Ungläubigkeit und Entrüstung mischten. »Bowman.«
Wie war das nur möglich?
Er kannte nur einen Einzigen, der dieses Erinnerungsstück in seinem Besitz haben konnte. Einen, der fähig wäre, sich vom Orden völlig unbemerkt zu bewegen, direkt vor ihrer Nase.
Aber dieser Mann war tot.
Nathan hatte die Explosion, die den Krieger getötet hatte, der wie ein Bruder für ihn gewesen war, selbst mit angesehen. Er hatte die Flammen in den Nachthimmel lodern sehen, nur Augenblicke nachdem Kellan Archer hineingegangen war – nur Sekunden, bevor Nathan und Mira ihm in die Lagerhalle gefolgt und mit ihm zugrunde gegangen wären.
Aber was Nathan nie gesehen hatte, erkannte er jetzt: Das, wonach niemand in der Asche und den Trümmern gesucht hatte, waren Kellans Überreste.
Der Scheißkerl.
Nathans Finger schlossen sich fester um den zierlichen Spiegel mit dem Familienwappen der Archers. Ihm gefiel das Gefühl der Verwirrung nicht, das jetzt an ihm nagte, als er versuchte, dieses beunruhigende Rätsel logisch zu lösen. Konnte Kellan Archer noch am Leben sein? Konnte er all diese Zeit alle getäuscht haben, die er kannte, und hier in Boston leben wie ein Geist? Wenn dem so war, wie war er ausgerechnet hier gelandet, mit neuem Namen und als Anführer einer menschlichen Rebellentruppe?
Verrat war etwas, wofür Nathans tödliche Kriegerlogik nicht ausgebildet war. Ihm war nie etwas wichtig genug gewesen, um ein Gefühl der Ungerechtigkeit zu empfinden, wenn ihm dieses Wichtige genommen wurde; jetzt aber war sein Magen von diesem unvertrauten Gefühl in Aufruhr, er brannte bitter wie Säure.
Und was war mit Mira?
So sehr er Kellans Verrat leugnen wollte – die Aussicht, dass Mira in die Sache hineingezogen worden war, verwandelte die brennende Säure in eisige Kälte, und der Killer in ihm wurde ruhig und berechnend, bereitete sich darauf vor, alle emotionalen Bindungen zu durchtrennen, um seine Mission auszuführen.
Nachdenklich sah Nathan den zerbrochenen Spiegel in seiner Faust an. Entweder Kellan oder Mira hatten ihn hier zurückgelassen, in dem Wissen – oder vielleicht in der Hoffnung –, dass jemand ihn entdecken und erkennen würde. Jemand vom Orden. Vielleicht sogar Nathan selbst.
Wenn es Mira war, konnte es ein Hilferuf sein, ein Hinweis, um ihm bei ihrer Rettung den Weg zu weisen. Nur kannte Nathan die Kriegerin zu gut, um das zu glauben. Ihre Liebe zu Kellan Archer hatte acht Jahre seiner Abwesenheit überdauert. Wenn sie jetzt wieder mit ihm vereint war, nachdem sie all diese Zeit um ihn getrauert hatte, konnte keine Macht der Welt sie mehr von seiner
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