Vertraute der Sehnsucht (German Edition)
Ehre von ihrem und Nathans Team sowie des Ordens generell auf sehr öffentliche Weise beschmutzt hatte – und das zu einer Zeit, wie Lucan sie erinnert hatte, als der hart erarbeitete Friedensprozess des Ordens und der Menschen um keinen Preis gefährdet werden durfte.
Natürlich hatte er recht. Egal wie tief ihr Schmerz über Kellans Verlust saß und wie sehr sie diejenigen verachtete, die sie dafür verantwortlich machte – ihre Pflicht gegenüber dem Orden stand für sie an erster Stelle. Als Kriegerin musste sie über solche Schwächen erhaben sein. Sie musste stärker sein, verdammt. Aber sie hatte versagt.
Und jetzt würde sie den Preis dafür zahlen müssen.
Voller Bedauern und Wut auf sich selbst stapfte sie durch den Schießstand zurück zur Ausgangsposition, steckte einige lose blonde Strähnen in ihren langen Zopf zurück und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Während in ihren Augen unvergossene Tränen brannten, machte Mira sich für eine weitere gnadenlose Trainingsrunde bereit. Mit äußerster Konzentration zog sie den zweiten Dolch aus seiner Scheide am Oberschenkel ihrer schwarzen Kampfmontur und führte eine schnelle Serie von Angriffs- und Verteidigungsbewegungen gegen einen imaginären Gegner durch. Sie atmete heftig, Schweiß rann ihr über die Schläfen und zwischen ihren Brüsten hinunter, als sie eine weitere Runde Scheinkampf absolvierte, und dann die nächste.
Sie machte weiter, bis sie vor Anstrengung keuchte, jeder Muskel protestierte und ihr weißes Tanktop ihr schweißnass am Körper klebte. Dann, mit allerletzten Kräften, duckte sie sich in Angriffshaltung und schleuderte die Waffe. Die Klinge schoss wie ein Pfeil durch die Luft, nur ein Aufblitzen von schimmerndem Metall, und schlug mitten in der Zielscheibe am anderen Ende des Schießstandes ein.
»Makellos.«
Nathans Stimme hinter ihr überraschte sie. »Deine Arbeit mit den Dolchen ist beeindruckend, wie immer.«
Mira hatte ihn nicht einmal eintreten hören, was sie auf ihre tiefe Konzentration beim Training und die irritierende Heimlichtuerei ihres Freundes zurückführte. Nicht, dass sie sie überraschte. Als Stammesvampir konnte er sich schneller bewegen, als Normalsterbliche dies wahrnehmen, geschweige denn nachmachen konnten. Aber Nathans tödliche Lautlosigkeit hatte auch noch andere Gründe.
Er war im Labor eines Wahnsinnigen gezüchtet und aufgezogen worden, zum einzigen Zweck, eine Tötungsmaschine zu sein, bis er als Teenager von seiner Mutter gefunden und gerettet und vom Orden aufgenommen worden war. Mira kannte Nathan seit ihrer Kindheit, er war ihr so nah und vertraut wie ihre eigene Familie. Trotzdem wandte sie jetzt ihr Gesicht von ihm ab und wischte sich den Schweiß und die heißen Tränen von den Wangen, während sie ihm den Rücken zudrehte.
»Schau mich nicht an, Nathan.« Nicht wegen ihrer Tränen, sondern aus einem anderen, schwerwiegenderen Grund. Sie zeigte auf den kleinen Behälter, der ihre speziell für sie angefertigten Kontaktlinsen enthielt. »Meine Augen sind nackt. Ich dachte, ich wäre hier allein, also habe ich beim Training meine Sehergabe nicht abgeschirmt.«
Wie alle Stammesgefährtinnen und ihre Kinder hatte Mira eine individuelle übersinnliche Gabe; ihre war besonders mächtig. Es war die Fähigkeit, anderen in ihren farblosen, spiegelartigen Augen einen Blick in ihre Zukunft zu zeigen. Oft waren diese Visionen unwillkommen, sogar erschreckend. Mira hatte keine Kontrolle darüber, was die anderen sahen; genauso wenig konnte sie die Vision selbst sehen. Und der Preis dafür, ihre Gabe zu benutzen, war eine fortschreitende Abnahme ihres Sehvermögens.
Als Mädchen hatte sie einen kurzen Schleier über dem Gesicht getragen, um ihre Augen zu schützen und ihre Sehergabe zu dämpfen. Nachdem Nikolai und Renata sie zu sich genommen hatten, damit sie unter dem Schutz des Ordens leben konnte, hatte Mira spezielle Kontaktlinsen bekommen, wie sie sie bis heute trug.
Sie spürte einen leichten Luftzug, als Nathan sich bewegte, und dann wurde ihr der glatte Plastikbehälter in die Hand gedrückt. »Warum wolltest du nicht, dass ich dabei bin, als Lucan heute Nacht angerufen hat? Du hättest nicht alleine mit ihm reden müssen. Ich hätte für dich ausgesagt, dir etwas von der Verantwortung abgenommen.«
»Ich würde dich nie darum bitten oder es dir erlauben«, sagte sie nachdrücklich, als sie die veilchenfarbenen Kontaktlinsen einsetzte. Das Allerletzte, was sie gewollt
Weitere Kostenlose Bücher