Vertraute der Sehnsucht (German Edition)
die sie gerade in der Vision gesehen hatte. Hastig setzte sie ihre Kontaktlinsen wieder ein. Als ihre Augen endlich wieder geschützt waren, kniete Kellan zusammengesunken auf dem Boden vor ihr.
»Maus, verdammte Scheiße. Warum hast du … Was in Gottes Namen hast du dir dabei denn gedacht?« Er packte sie fest an beiden Oberarmen, und sie spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. »Schau mich an, Kleines. Lass mich dein Gesicht sehen. Ich muss wissen, dass du okay bist.«
Sie hob das Gesicht und schaute in seine feurigen Augen. Seine Züge verschwammen, als ihr die Tränen kamen. »Ich bin … oh Gott, Kellan! Du hattest recht. Die Vision. Das Urteil. Alles stimmt.«
»Du hast es gesehen«, flüsterte er, und mit einem Mal erlahmte sein Griff um ihre Oberarme. »Du hast deine eigene Vision gesehen. Mira … warum hast du das getan?«
»Ich musste es selbst sehen, damit ich Gewissheit habe. Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben … bis jetzt.« Ihr versagte die Stimme, und sie musste schlucken, damit sie weitersprechen konnte. »Ich habe alles gesehen, genau wie du es beschrieben hast. Und da war noch mehr. Oh Gott, Kellan, sie hatten dich zu Tode verurteilt, und dann habe ich dich gesehen. Du warst …« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. Schluchzend und völlig erschöpft fiel sie ihm in die Arme. Das Herz tat ihr weh. »Ich kann es nicht ertragen, wenn ich dich verliere. Nicht noch einmal. Nicht so.«
Er legte seine starken Arme um sie und drückte sie fest an sich. »Ich kann es auch nicht wirklich fassen. Wenn ich dich festhalten könnte, damit wir für immer zusammenbleiben, dann würde ich dich nie wieder loslassen.«
Sie nickte und presste sich eng an seine warme Brust. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass er sie auf ewig so halten würde. Ohne seinen Herzschlag, seinen Atem, ohne die Kraft und Wärme seines Körpers konnte sie einfach nicht weiterleben. Sie musste ihn bei sich spüren können, gesund und munter. Und lebendig.
Als sie sich an ihn klammerte, fiel ihr Blick auf den zerstörten Spiegel und die glitzernden Scherben überall auf dem Boden. Ein neuer Schmerz durchzuckte sie. »Der Spiegel deiner Großmutter … Kellan, es tut mir so leid. Er ist zerbrochen und das nur meinetwegen.«
»Das Ding ist mir scheißegal«, flüsterte er in ihre Haare. »Du bist das Einzige, das mir wirklich wichtig ist im Leben. Und du weißt nicht einmal genau, was du dir eben selbst angetan hast, Maus. Ist dir das überhaupt klar?«
»Ich musste es wissen«, sagte sie. Mit der Hand strich sie über eine der silbrig glänzenden Glasscherben. Sie hob sie auf und hielt sie zwischen den Fingern. Es tat ihr leid, dass die einzige Erinnerung an Kellans Vergangenheit nun zerstört worden war, weil er sie beschützen wollte. »Ich wollte dir beweisen, dass du nicht recht hast mit dem, was du gesehen hast. Ein wenig Hoffnung wollte ich – zumindest ein bisschen –, dass wir doch zusammenbleiben könnten. Aber die Vision war schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie war so schlimm, dass ich es immer noch kaum glauben kann.«
Instinktiv schloss sie die Faust um die messerscharfe Scherbe, doch sie bemerkte es erst, als sich die gezackten Kanten in ihre Handflächen bohrten.
Doch Kellan bemerkte es sofort.
Er wurde ganz ruhig, und seine Muskeln spannten sich sofort an, sein Körper straffte sich unwillkürlich. Er wich etwas zurück von ihr, sodass sie sehen konnte, wie sich seine Nasenlöcher weiteten, als er den nächsten Atemzug nahm. Noch vor einer Sekunde hatte das Feuer in seinen Augen wütende Funken geschlagen, doch jetzt waren sie rot wie glühende Kohlen, und durch ihr Zentrum liefen die schmaler werdenden, vertikalen Schlitze, die seine Pupillen waren. Er knurrte, ein dunkler, polternder Laut, der tief aus seiner Brust kam und ihr in den Knochen vibrierte. »Mira …«
Er nahm ihre Faust in die Hand und öffnete sie mit Gewalt. Die Glassscherbe fiel klirrend zu Boden. Ihre Handfläche war mit Blut bedeckt, und kleine Rinnsale liefen über ihr bleiches Handgelenk. Er starrte auf die dunkelroten Linien und stieß durch seine Fänge einen heiseren Fluch aus. Doch jetzt war er alles andere als wütend.
Er veränderte sich immer mehr, seine Gesichtszüge wurden schärfer, wilder. Außerirdisch. Sie hatte ihn schon früher in seiner wahren Gestalt gesehen, aber noch nie so wie jetzt. Dies war Kellan Archer, ganz der Stammesvampir in seiner
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