Vertraute Schatten
das Herz zerriss. Und dennoch … sie konnte ihn nicht halten.
»Ich kann nicht, Liebling. Nicht jetzt. Ich … ich muss jetzt los. Also, pass gut auf dich auf und …«
Er schüttelte den Kopf und wandte sich zur Tür. Und schon war er fort, verschwunden aus ihrem Leben, als hätte er nie wirklich existiert. Ariane blieb ganz still sitzen und lauschte auf das Geräusch, das der Motor des Wagens im Leerlauf machte. Dann hörte sie eine Tür zuschlagen, und das Motorengeräusch entfernte sich.
Erst jetzt gestattete sie sich, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.
So viel hatte sich verändert, und trotzdem fühlte sie sich wieder wie ganz am Anfang.
Allein.
22
Bis sie an den Wachen vorbei war und endlich an die Tür klopfte, wurde der Himmel bereits grau.
Vlad, charmant verwuschelt, öffnete ihr selbst. Vermutlich hatte er sich in ein Buch vertieft und darüber die Zeit vergessen, wie so häufig. Außerdem schien das, was er anhatte, ein Smokingjackett zu sein, und das kam ihr so komisch vor, dass sie beinahe hysterisch losgekichert hätte. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, vor allem weil sie die Befürchtung hatte, dass das Kichern schnell in Weinen umgeschlagen wäre. Und Tränen hatte sie auf dem Weg hierher schon genug vergossen.
Sie hatte sich zusammengerissen und es irgendwie geschafft, die vergangene Nacht zu überstehen. Sie hatte so getan, als mache ihr Damiens plötzliche Abreise nichts aus, aber sie hatte die mitfühlenden Blicke durchaus bemerkt, die Lyra ihr immer wieder zugeworfen hatte. Alles war gut, alles war normal. Das hatte sie damals schon gut vorspielen können. Selbst in ihren schlimmsten Zeiten bei den Grigori hatte sie gelächelt und heiter gewirkt. Aber Damien hatte ein Loch in ihr Herz gerissen, und sie hatte keine Ahnung, wie diese Wunde jemals heilen sollte. Jahrhundertelang hatte sie darauf gewartet, jemandem ihr Herz zu schenken … und er hatte es zurückgewiesen.
Wenn sie auch die nächsten achtundvierzig Stunden irgendwie überstand, würde sie vermutlich damit leben können. Sie hatte sich all die Jahre nicht kleinkriegen lassen, und das würde auch jetzt nicht geschehen. Aber solch ein Schmerz, so wütend, so endlos, war ihr neu.
Er war fort. Damien war fort, und sie bezweifelte, dass er zurückkommen würde. Er war eine wandelnde Festung, in die nicht einmal sie eindringen konnte, und daran ließ sich auch nichts ändern. Sie hatte es versucht.
»Ariane!«, rief Vlad sichtlich erfreut. »Ich wusste nicht, wann genau ich mit Ihnen rechnen durfte.« Er warf einen Blick hinauf zum Himmel. »Ganz schön knapp. Ich hätte Ihnen den Jet geschickt, aber als ich mit Jaden gesprochen habe, bestand er darauf, dass …«
»Ich wollte selbst fliegen«, fiel Ariane ihm ins Wort. Sie zwang sich zu lächeln. »Ich liebe die Nachtluft. Und es tut gut, die Flügel auszubreiten.«
Doch der eigentliche Grund war, dass sie hatte allein sein wollen. Nur war ihr Kopf durch den Flug leider nicht wie erhofft klarer geworden.
Vlad betrachtete sie voller Interesse. Sie wusste, er hätte sie gern über ihre Flügel ausgequetscht, auf die er in der Nacht von Orens Angriff nur einen kurzen Blick hatte werfen können. Normalerweise hätte sie das belustigt. Er war viel zu höflich, um sie zu bitten, sie auszubreiten, aber ihr war klar, wie sehr er sich das wünschte. Irgendwann würde sie sie ihm vorführen. Er war viel zu nett, als dass man ihm eine solch einfache Bitte abschlagen würde. Außerdem würden bei all dem, was zurzeit geschah, die Geheimnisse ihrer Dynastie nicht mehr lange Geheimnisse bleiben. Aber im Moment war sie nur noch unendlich erschöpft, und nichts machte ihr mehr Freude. Die Erschöpfung war so allumfassend, dass sie nicht einmal nervös wurde, wenn sie an das Treffen dachte, das in der kommenden Nacht stattfinden sollte. Aber das würde sich vermutlich noch ändern.
»Kommen Sie mit«, sagte Vlad nach einem forschenden Blick auf ihr Gesicht. »Ich weiß, es ist erst ein paar Tage her, aber nach eurer Abreise war es hier dermaßen still!« Er machte einen Schritt zur Seite, um sie hereinzulassen. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und wandte den Kopf zur Seite. Er war ein guter Beobachter … und sie eine schlechte Lügnerin.
»Wie ist es gelaufen? Sammael ist auch unterwegs, nehme ich an?«
»Ja. Wir sind zur gleichen Zeit aufgebrochen, allerdings in unterschiedliche Richtungen. Er hat gemeint, dass er es in einer Nacht schafft, aber …« Sie zuckte mit den
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