Vertraute Schatten
schnappte nach Luft. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand, doch dann wurde ihr klar, dass sie zusammengesunken auf der Bank saß.
Wie durch einen Nebelschleier sah sie, dass die anderen sich von ihren Plätzen erhoben. Sie beugten sich zu einer Gestalt hinab, die zusammengekrümmt bewegungslos auf dem Boden lag. Irgendjemand schrie etwas.
Ariane zwang sich aufzustehen, wollte sich den anderen anschließen, doch Vlad sah hoch, Entsetzen im Blick, und rief: »Ariane! Holen Sie Ludo! Holen Sie irgendjemanden! Sie atmet nicht mehr!«
Ariane nickte und hastete zur Tür, dann den feuchten, stillen Gang entlang, auf die Treppe zu. Was sie gesehen hatte, ließ sie noch immer taumeln. Sam war gar kein echter Vampir. Keiner der Ältesten war das. Und der Bruder, den sie angekettet hatten … was er getan hatte, was er noch tun
konnte
…
Immer noch flüsterte seine dunkle, verführerische Stimme in ihrem Kopf.
Ich bin der Engel, der keiner mehr ist. Ich bin Nichts. Ich bin Alles. Ich bin Chaos.
Und ich erhebe mich.
Sie sah Ludo erst, als sie am Fuß der Treppe angekommen war. Er lag bewusstlos auf den unteren Treppenstufen. Oben war alles still.
Ariane schnappte nach Luft, und das klang in der völligen Geräuschlosigkeit ungewöhnlich laut. Dann wurde sie auf einmal von hinten gepackt und fortgezogen. Eine Hand legte sich auf ihren Mund, ein Arm schlang sich um ihre Taille. Schlagartig wurde ihr alle Luft aus den Lungen gequetscht, viel zu plötzlich, als dass sie noch hätte schreien können. Eine Stimme füllte ihren Kopf aus, eine Stimme, die so laut war, dass sie wie ein schmerzender Pfeil direkt über dem rechten Auge durch ihre Stirn schoss.
Kämpfe nicht, Ariane.
Ein seltsamer, süßlicher Geruch drang ihr in die Nase, betäubte sie und ließ sie an einen dunklen Ort hinabgleiten, wo sie ausruhen und vergessen konnte. Sie versuchte, den Kopf über Wasser zu halten, aber die Strömung war zu stark, zu tief.
Du wirst ihm bei der Auferstehung helfen.
Aus der Ferne glaubte sie ein raubkatzenhaftes Fauchen zu hören, das Rascheln von Flügeln.
Dann wurde alles schwarz.
24
Als sie die Augen öffnete, sah sie zunächst nur glänzendes Silber.
Dann wurde ihr klar, dass ihr im Schlaf das Haar ins Gesicht gefallen war. Sie konnte sich nicht gleich bewegen, sie fühlte sich wie erschlagen, ihr war übel, und ihre Muskeln waren ganz steif vom Liegen auf dem kalten, harten Boden.
Sie wusste nicht, wo sie war, hatte aber eine ungute Ahnung.
Leise stöhnend hievte sie sich hoch, trotz des rasenden Schmerzes, der durch ihren Kopf schoss. Zitternd schob sie sich das Haar aus dem Gesicht. Sie musste ein paarmal blinzeln, bevor sie sich die kleine Zelle genauer ansehen konnte, in die man sie gesperrt hatte. Sie atmete tief ein. Es roch nach Sand und Gewürzen, nach Wüstenwind und … etwas wundervoll Vertrautem.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, wovon sie wach geworden war.
Von der anderen Seite der Gitterstäbe aus hielt eine große, schlanke schwarze Katze den Blick auf sie gerichtet.
Zunächst glaubte sie, sie würde halluzinieren. Aber egal wie oft sie blinzelte, die Katze war noch immer da und starrte sie aus blauen Augen an. Damiens Augen. Irgendwie hatte er den Weg zu ihr gefunden.
Sie öffnete den Mund, um seinen Namen zu flüstern, doch in dem Moment hörte sie seine Stimme laut und deutlich in ihrem Kopf.
Sag nichts, Liebling. Ich hole dich hier raus. Kannst du gehen?
In seiner Stimme lag so viel Gefühl, wie sie sich nie zu erhoffen gewagt hatte. Sie wusste nicht, wie er hierhergelangt war und was seine Anwesenheit bedeutete, aber sie war unglaublich erleichtert. Erst in diesem Moment verstand sie, wieso sie seine Stimme in ihrem Kopf hatte hören können, als sie bei Vlad das Bewusstsein verloren hatte. Er hatte die Blutsbande zwischen ihnen genutzt, um ihre Gedanken zu berühren … um sie wissen zu lassen, dass er auf dem Weg zu ihr war.
Ich glaube ja.
Sie kroch zu dem großen schönen Kater und ließ die Finger durch sein weiches schwarzes Fell gleiten, spürte seinen langsamen Herzschlag und seine gleichmäßigen Atemzüge. Dann verwandelte sich das Fell unter ihren Händen in Stoff, und vor ihr stand Damien, der ein wenig zerknittert, aber glücklicherweise ganz und gar echt wirkte.
»Du bist gekommen«, flüsterte sie.
Er legte ihr den Finger auf die Lippen und setzte sein unverschämtes Lächeln auf, in das sie sich gleich am Anfang verliebt hatte.
Nicht hier, Kätzchen.
Weitere Kostenlose Bücher