Vertraute Schatten
ins Herz traf.
Ewig lang verdrängte Erinnerungen überschwemmten ihn. Sonnige Gärten, die freundlichen Stimmen der vielen Frauen, die sich bemüht hatten, ihn großzuziehen. Der nur schwer fassbare Geist der Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte, die ihn lachend und tanzend in den Armen hielt. Musik. Freunde. Wärme. Licht.
Aber mit dem Schönen kam auch das andere. Und während Arianes Stimme zu Moll wechselte, sah Damien plötzlich seinen korpulenten Vater, der mit hochrotem Schädel hinter seinem Schreibtisch saß und ihn anbrüllte, er sei eine Schande für die Tremaines. Der ihn lautstark verdammte wegen seines Mangels an Schamgefühl, obwohl der alte Mann selbst keins hatte. Der Vergleich mit seinen Brüdern, die ihm nie Kummer bereiteten.
Und schließlich die letzte Nacht, in der er je seinen Fuß auf den Boden von Hawkesridge setzen sollte und sein Vater erschrocken vor dem zurückwich, was aus seinem jüngsten Sohn geworden war. Es war die Nacht, in der er in die Finsternis geschaut und entdeckt hatte, wohin er tatsächlich blickte: in seine Seele.
Die letzte Note war gesungen, das Lied zu Ende. Einen Moment lang herrschte Grabesstille. Damien bemühte sich, seine Fassung wiederzuerlangen. Seit Jahren, seit einem Jahrhundert, hatte er nicht mehr an sein früheres Zuhause gedacht. Welche Rolle spielte es, dass er ein Verlorener war? Er war es immer gewesen.
Doch das stimmte nicht. Er hasste es, sich an die Zeit zu erinnern, als er noch nicht verstanden hatte, dass er sich einzig und allein auf sich selbst verlassen konnte. Seine Unschuld war einen schweren und frühen Tod gestorben … aber sie hatte einmal existiert.
Diese Flut von Erinnerungen hatte ihn vollkommen erschüttert.
»Herrlich«, unterbrach Vlad das Schweigen.
Dann legte Ariane eine Hand auf Damiens Schulter und brachte ihn so in die Gegenwart zurück. Ein kleiner, aber wichtiger Anker.
»Alles in Ordnung?«, hauchte sie ihm ins Ohr. Wie gern hätte er den Kopf umgewandt und sein Gesicht in ihrem wunderbaren Haar vergraben. Wie gern hätte er sich in ihr verloren. Aber Damien wusste, wenn er ihr zu nahekäme, würde er sie vernichten und zudem möglicherweise den Teil in sich zerbrechen, dem er so lange Zeit sein Überleben zu verdanken hatte.
»Mir fehlt nichts, Kätzchen«, murmelte er, drehte den Kopf und sah ihr Gesicht unmittelbar vor sich. Bevor er sich zurückhalten konnte, sog er ihren Duft in sich ein, bis er gar nichts anderes mehr wahrnahm. Ihre Augen funkelten schwach. Wie zwei Sturmlichter.
»Du spielst sehr gut.« Ariane musterte seine Lippen. Er musste schlucken und drückte die Finger durch, die sie am liebsten gepackt hätten. Er hatte sie gewarnt, dass sie mit dem Feuer spielte.
»Deine Stimme hat meine Schwächen überdeckt«, antwortete er mit, wie er hoffte, fester Stimme. »Ich habe nie etwas auch nur annähernd so Schönes gehört.«
Als ihr klar wurde, dass das sein voller Ernst war, strahlte sie übers ganze Gesicht. Seine Freude darüber drängte alles andere in den Hintergrund … bis auf den Duft nach altem Gewürz, den ein leichter Abendwind zu ihm trug, der, heiß und trocken, vielleicht sogar aus der Wüste herüberwehte.
Seine über viele Jahre hindurch geschärften Instinkte schlugen an, doch als er sich zurück ins Hier und Jetzt versetzte, geschah dies mit einem Bedauern, das er längst überwunden geglaubt hatte.
»Wir werden beobachtet«, sagte er so sanft, als hätte er soeben einen Teil seines Innern entblößt. Die Warnung ließ Arianes Lächeln verblassen.
»Schau nicht zu den Fenstern. Sag kein Wort. Geh aus dem Zimmer und schließ die Tür hinter dir.«
Er sah, wie sie tief Luft holte und den Geruch ihres Stammesbruders einsog. Dass ihrer Miene das Wiedererkennen anzusehen war, damit hatte er gerechnet. Was er nicht erwartet hatte, war die entsetzliche Angst, die damit einherging.
»Oren«, flüsterte sie. Einen schrecklichen Moment lang verlor ihr Gesicht jeglichen Ausdruck. Dann schaute sie Damien an, und er entdeckte in ihren Augen etwas, das ihn mehr erschütterte als ihre Stimme. Etwas, das ihm wohlbekannt war, das er aber zu ignorieren gelernt hatte, selbst wenn es ihn heimsuchte.
Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Das ist mein Kampf. Er wird euch alle töten, um mich in die Finger zu bekommen. Das ist sein Recht. Ihr müsst gehen.«
In ihren Augen sah er den Tod.
12
Ariane bemerkte kaum, dass Vlad und Diana aufstanden. Sie bekam auch nicht richtig mit, wie Damien sie am
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