Vertraute Schatten
zu spüren. »Danke, Ariane. Lucan schläft zu tief. Ich weiß nicht, ob er noch einmal aufwacht. Und wenn doch, wird es nicht früh genug sein. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen, aber du hast die Kraft, und ich habe keine Wahl. Je länger unsere Artgenossen Chaos verstecken, desto schlimmer wird die Fäulnis, die er gebiert. Es hat viel zu lange gedauert, bis ich das begriffen habe. Was wir getan haben – all die Seelen, die wir an ihn verfüttert haben, um ihn so satt zu halten, dass er weiterschlief –, vergiftet uns, bis wir nicht mehr seine Wärter, sondern seine Handlanger sind. Wenn die Dinge sich nicht ändern, werden die Grigori die Auferstehung nicht verhindern können. Wir werden sie sogar ermöglichen.«
»Dann lass uns mit Sariel beginnen«, erwiderte Ariane. Sie dachte an den riesigen, unnachgiebigen Kämpfer und hoffte, dass Sam sich einen wirklich guten Plan zurechtgelegt hatte.
»Du wirst ihn vor den anderen Ratsmitgliedern bloßstellen. Und ich werde seine Abwesenheit nutzen, um in die Wüste zu fliegen und den Rest der Ältesten umzustimmen. Diese Ratsversammlung eröffnet uns Möglichkeiten, auf die ich schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.«
Ariane starrte ihn fassungslos an. »Ich soll den Anführern erzählen, was er getan hat? Wieso sollten sie mich anhören? Ich bin keine Anführerin. Und er ist dort, höchstpersönlich!«
»Inmitten der führenden Köpfe der Dynastien bist du viel sicherer. Ich will nicht behaupten, dass es ungefährlich ist, Ariane. Aber falls es eine Möglichkeit gibt, Chaos zu zerstören – und selbst jetzt bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich machbar ist –, erfordert das die geballte Kraft aller Dynastien. Sariel wird nicht mal einen Versuch zulassen. Chaos flüstert ihm Dinge ein, wie er das mit jedem tut, der sich ihm nähert. Ich weiß nicht, wie lange Sariel ihm schon zugehört hat. Ich weiß nur, dass Chaos’ Hunger größer geworden ist, und niemand hat versucht, dem auf den Grund zu gehen. Sariel ist nicht mehr er selbst.« Er seufzte. »Aber er stand Chaos vor seinem Sturz auch am nächsten. Damals, als er noch einer von uns war. Vielleicht hat er sich über meine Schwäche lustig gemacht, weil er sich vor seiner eigenen gefürchtet hat.«
»Einer von uns?« Ariane sah ihn ungläubig an.
»Chaos war einer von den Ältesten. Er war ein Grigori. Er ist unser Bruder.«
Ariane, der es vor Verblüffung die Sprache verschlagen hatte, sah wortlos zu, wie Sam auf das Kissen zurücksank und ermattet die Augen niederschlug. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ziemlich lange gesprochen hatten – vermutlich länger, als ihm guttat. Inzwischen wusste sie, dass ein verletzter Flügel eine schwerere Verwundung darstellte, als sie gedacht hätte. Und wenn er, wenn sie beide eine Chance haben sollten, das dunkelste Geheimnis der Grigori zu enthüllen, ohne dass Sariel ihnen dazwischenfunkte, dann musste sie ihn jetzt unbedingt schlafen lassen. Es gab Wunden, die nur im Tiefschlaf heilten.
»Ruh dich erst mal aus«, sagte sie sanft. »Wir haben genug geredet. Alles Weitere können wir morgen besprechen.«
Es gab eine Menge, worüber sie nachdenken musste, und sie musste Pläne schmieden. Außerdem, wurde ihr schlagartig klar, würde sie das alles Damien irgendwie beibringen müssen.
Sam neigte leicht den Kopf. »Ja, ich glaube … das ist das Beste.« Seine Augen fielen allmählich zu. »Morgen Nacht … müssen wir ein paar Vorbereitungen treffen.«
Seine Stimme wurde immer leiser, und dann waren seine Augen geschlossen. Ariane blieb neben ihm auf dem Bett sitzen und beobachtete jeden einzelnen seiner mühsamen Atemzüge. So lange Zeit war ein Tag wie der andere gewesen. Dann war sie aufgebrochen, und jeden Tag war etwas Neues passiert. Sie hatte einen Ort zum Leben gefunden. Freunde. Damien …
Und nun dies. Jahrhundertelang hatte sie auf eine Gelegenheit gewartet, sich zu beweisen, irgendetwas Bedeutendes zu tun. Und was könnte bedeutender sein, als den Führer ihrer Dynastie abzusetzen, um den Kampf gegen einen angeketteten, Seelen fressenden Dämon aufzunehmen, mit dem dieser Führer zufällig verwandt war?
Wenn Sam ihr zur Seite stand, gab es für sie eigentlich keinen Grund zu zögern. Außer …
Seufzend erhob Ariane sich vom Bett und trat an eins der hohen Fenster. Heute Nacht verbarg sich der Mond hinter den Wolken, aber der dunkle Himmel zog sie dennoch an.
Trotz allem, was Sam ihr enthüllt hatte, wanderten ihre Gedanken immer
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