Vertraute Schatten
gab ihr ein Gefühl, als würde sie von innen erleuchtet. Farben und Töne entstanden und wirbelten durch sie hindurch. Und über all das hinweg hörte sie Sams Stimme.
»Du warst dem Tode geweiht. Deine Familie, deine Geschwister, alle waren bereits tot. Dein Zuhause stand in Flammen, und die Soldaten hatten dich nach draußen gezerrt …«
Bei seinen Worten entstanden vor ihrem geistigen Auge Bilder, grauenhafte Bilder. Schlagartig war die Erinnerung wieder da, fiel über sie her mit einer Reihe grässlicher, blitzartiger Eindrücke, die wie Schläge auf sie einprasselten: die Schreie, die entsetzten Gesichter ihrer jüngeren Brüder und Schwestern beim Anblick der Männer. Alles war so schnell gegangen, dass ihr keine Zeit mehr geblieben war, sie in Sicherheit zu bringen.
Ihr Vater, der sich vor sie gestellt hatte, war innerhalb von Sekunden niedergestochen worden. Man hatte sie nach draußen geschleppt, sodass sie nicht miterlebt hatte, was ihren Geschwistern geschah, aber sie hatte sie schreien und ihren Namen rufen hören.
Und dann waren da nur noch Fäuste und raue Hände gewesen, die nach ihr gegrabscht und an ihr gezerrt hatten …
Sie krümmte sich zusammen, so schlimm war der Schmerz, den die Erinnerungen auslösten. Ihre Familie. Sie hatten ihre gesamte Familie umgebracht, sogar die Kinder.
»Ich hieß Anne«, rief sie atemlos aus. »Ich erinnere mich an ihre Stimmen, wie sie nach mir gerufen haben.«
»Ich kam dazu, als du gerade einen Mann mit seinem eigenen Dolch erstochen hast«, hörte sie Sams Stimme wie aus weiter Ferne. »Ein derartiger Lebenswille, obwohl sie dich so brutal verprügelt hatten. Die anderen hätten dich für seinen Tod büßen lassen, auch wenn sie sowieso vorhatten, dich umzubringen. Du hast mich angesehen.«
Er schwieg eine Zeit lang, und als er fortfuhr, schwang so etwas wie Erstaunen in seiner Stimme mit. »Du hast mich angesehen. Ich stand dort, in der Dunkelheit, und zum ersten Mal konnte ich mich nicht einfach abwenden. Da war so viel Kampfgeist in dir, aber auch so viel Schmerz. So viel Liebe. Alles, was uns verboten war, alles, was ich mit Geringschätzung betrachtet hatte … und trotzdem war da ein Drang, wie ich ihn nie zuvor verspürt hatte. Also nahm ich dich. Und mit dem Blut flossen deine Erinnerungen davon, weil ich es so wollte.«
Das Einzige, was sie noch sehen konnte, waren die Gesichter ihrer Familie, die ihr so lange entschwunden waren. Das wettergegerbte Gesicht ihres Vaters, lächelnd im Sonnenlicht. Ihre Schwester, der sie einen Zopf flocht, während sie sich kichernd Geschichten erzählten. Ihr jüngerer Bruder, wie sie ihn im Arm hielt, wenn er aus einem Albtraum über ihre Mutter erwachte, die gestorben war, als sie ein totes Kind zur Welt brachte. Es war ein hartes Leben gewesen – aber voller Liebe.
Kein Wunder, dass es ihr so sehr gefehlt hatte, auch wenn ihr nicht klar gewesen war, was sie da eigentlich vermisste.
Langsam öffnete sie die Augen. Die Vergangenheit entschwand, und da war nur noch Sam, so wie er immer gewesen war: stark. Verlässlich. Wirklich. Wieder legte er die Hand auf ihr Gesicht, diesmal um die Tränen wegzuwischen, die ihr, ohne dass sie das bemerkt hatte, die Wangen hinabliefen. In Sams Blick lag ein Schmerz, wie sie ihn noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Es tut mir leid, Ariane.«
»Dass du mich gerettet hast?«, fragte sie und ließ den Tränen freien Lauf, zum ersten Mal in diesem Leben.
»Nein. Dass du das alles verloren hast. Ich habe dir ein neues Leben und einen neuen Namen gegeben, aber ich konnte dir nichts von dem geben, was du wirklich gebraucht hättest. Ich glaube … ich war einsam. Ich bin so viel älter, als du ahnst. Auf dieser Welt zu leben und doch nie zu ihr zu gehören, greift die Seele an, selbst eine unsterbliche wie meine.«
Sie lächelte ihn durch ihre Tränen hindurch an und drückte ihm sanft die Hand. Endlich hatte sie das Gefühl alles zu verstehen.
»Nein«, erwiderte sie. »Entschuldige dich nicht. Du hast das Einzige getan, was du tun konntest, Sam. Das war mehr als genug. Ich bin froh, dass du mich gefunden hast. Froh, dass du derjenige warst.«
Liebevoll und warmherzig lächelte er sie an, und sie wusste, dass er sie liebte, auch wenn er das vielleicht nie würde aussprechen können.
Und jetzt verstand sie auch, warum er sie hatte kommen lassen. Er brauchte ihre Hilfe.
»Sag mir, was ich tun soll, Sam. Was immer du brauchst – ich helfe dir.«
Sams Erleichterung war deutlich
Weitere Kostenlose Bücher