Vertraute Schatten
nicht alles ist grau. Er mordet und stiehlt, gegen Geld und um sich in Szene zu setzen. Gelegentliche gute Taten machen das nicht besser.«
»In ihm steckt mehr, als du glaubst!«
»Und sehr viel weniger, als
du
in ihm zu sehen meinst.« Sam drehte den Kopf zur Seite und starrte auf die tanzende Kerzenflamme. »Er ist deiner nicht würdig. Und du wirst es nicht schaffen, mich umzustimmen.«
Ariane wurde rot, aus Wut und aus Scham. Sam wusste Bescheid. Natürlich. Sie war schon immer durchschaubar wie Glas gewesen. Aber dass er sie jetzt, nach allem, was geschehen war, wie ein Kind behandelte … sie weigerte sich, auf ihn zu hören. Sosehr sie auch immer zu ihm aufgesehen hatte – manche Seite an ihr würde er nie verstehen.
»Wenigstens er hat zu mir gehalten«, erwiderte sie leise. Sam sagte nichts, sondern starrte bloß weiter in die Flamme. Sein Schweigen und abweisendes Gesicht ließ ihre größte Angst wieder aufleben, die Angst, die sie jede Nacht seit seinem Verschwinden geplagt hatte. »Du warst der Einzige, den ich dort in all den Jahren hatte«, sagte sie. »Und trotzdem hast du mich dort zurückgelassen, ohne ein Wort zu sagen. Bedeute ich dir denn gar nichts?«
Sam richtete den Blick wieder auf sie. In seinen Augen schimmerte ein tiefes, unergründliches Gefühl auf. »Ariane.
D’akara
. Wie kannst du das bloß glauben? Ich schätze dich mehr als meine Pflicht. Mehr als mein Leben.« Er streckte die Hand aus und strich ihr mit einer seltsam zaghaft anmutenden Geste eine Locke aus dem Gesicht. »Die anderen sahen in dir nur meine Schwachstelle. Das war das einzige Mal, dass ich dem Schicksal nicht seinen Lauf lassen durfte. Aber ich habe nie bereut, was ich in jener Nacht getan habe. Du bist meine einzige Blutsverwandte. Welch seltsamer Schachzug des Schicksals, dass ich dich nie als Kämpferin, sondern immer als mein Kind betrachtet habe.«
Ihr Herz schien stillzustehen. Sie brachte nur ein einziges Wort heraus, aber es war das entscheidende.
»Du?«
Er nickte. »Ich habe dich verwandelt, Ariane. Die anderen haben dich am Leben gelassen, damit du mich immer daran erinnerst, wohin es führt, wenn man seiner Schwäche nachgibt. Du solltest meine Schande sein. Aber stattdessen warst du in all den Jahrhunderten mein einziger Lichtblick. Ich habe dich so gut beschützt, wie ich konnte.«
Endlich die Wahrheit zu erfahren gab ihr ein Gefühl inneren Friedens, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. All die jahrelangen Zweifel, all die kleinen Grausamkeiten, die sie hatte erdulden müssen, spielten plötzlich keine Rolle mehr. Egal was für Lügen man ihr erzählt hatte – das eine, worauf sie gebaut hatte, war echt.
Sam hatte sie geliebt. Und eins wusste sie mit Sicherheit: Sams Liebe hatte sie vor der Leere bewahrt, die sie sonst aufgefressen hätte. Sie legte die Hand auf seine. Endlich verstand sie das Band zwischen ihnen. Er war für sie das, was einem Vater am nächsten kommen konnte. Und da war noch etwas, das er ihr geben konnte, das wusste sie genau.
»Wer bin ich?«, fragte sie leise. »Wer war ich?«
Zunächst hatte es den Anschein, als würde Sam nicht antworten wollen. Doch dann begann er zu sprechen, und obwohl er leise sprach, schien seine klangvolle Stimme den gesamten Raum zu füllen.
»Dein Dorf brannte, angezündet von einer Bande Normannen, die alles und jeden vernichten wollte, bevor sie weiterzog. Mein Bruder und ich waren häufig in dem Land gewesen und hatten den Aufruhr und die Umwälzungen beobachtet. Hatten nach Zeichen Ausschau gehalten, ob … nun, das spielt jetzt eigentlich keine Rolle mehr.
Er
war nicht dort. Aber du.«
Nach Jahrhunderten, in denen es für sie statt Erinnerungen nur ein schwarzes Loch gegeben hatte, riefen Sams Worte jetzt Stimmen und Bilder in ihr wach, als hätte es nur seiner Erlaubnis bedurft, die Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen. Sie zitterte, und ihre Haut war auf einmal eiskalt. Es war, als würde jemand aus dem Grab zu ihr flüstern.
»Bist du dir sicher, dass du es wissen möchtest? Manchmal, Ariane, ist Vergessen ein Segen.«
Sie schlang die Arme um ihren Körper, um sich gegen die Kälte zu schützen, und nickte. »Ich muss es wissen.«
»Nun gut«, erwiderte er, und es klang ein wenig reuevoll. »Ich hätte dir das schon längst geben sollen.«
Er presste die warmen Finger gegen ihre kalte Stirn, und sofort fielen ihr die Augen zu. Eine seltsame Kraft drang über seine Hand in sie ein, lief durch ihren Körper und
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